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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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nicht von der Voraussetzung aus, dass mein unvollkommener Körper daran teilhaben könnte: Im Gegenteil, wenn er dazwischentrat, kam es vor, dass er alles verdarb. Zweifellos musste man, um ein Musikstück wirklich existent zu machen, alle Nuancen wiedergeben und es nicht ‹morden›; auf alle Fälle aber würde es unter meinen Händen nie seinen höchsten Vollkommenheitsgrad erreichen; wozu also sollte ich mich erst leidenschaftlich bemühen? Fähigkeiten zu entwickeln, die notwendigerweise begrenzt und relativ bleiben würden, widerstand mir wegen der Resignation, die in diesem Streben lag, da ich doch andererseits nur zu schauen, zu lesen, folgerichtig zu denken brauchte, um an das Absolute zu rühren. Wenn ich einen englischen Text übersetzte, so entdeckte ich in voller Totalität dessen einmaligen universalen Sinn, während das th in meinem Mund nur eine Artikulation unter Millionen anderer war; ich verschmähte es, mich damit zu beschäftigen. Die Dringlichkeit meiner Aufgabe untersagte mir, mich bei solchen Nichtigkeiten aufzuhalten: So viele Dinge verlangten nach meiner Aufmerksamkeit! Es galt, die Vergangenheit wiederzuerwecken, fünf Kontinente zu erforschen, in den Mittelpunkt der Erde hinabzusteigen und den Mond zu umkreisen. Wenn ich mich zu müßigen Übungen zwang, litt mein Geist an einer Art von Hungersnot, und ich sagte mir, dass ich damit nur kostbare Zeit verlöre. Ich war beraubt und schuldig zugleich und hatte es daraufhin eilig, damit zu Ende zu kommen. Jeder Befehl von außen brach sich an meiner Ungeduld.
    Ich glaube auch, dass ich die Arbeit des Ausführens deshalb für weniger wichtig hielt, weil mir dabei nur Scheinwerk herauszukommen schien. Im Grunde war ich der Meinung, dass die Wahrheit einer Sonate so unverrückbar, so ewig dastand wie die von
Macbeth
in einem gedruckten Buch. Schaffen war etwas anderes. Ich war voller Bewunderung, wenn jemand etwas Wirkliches in der Welt entstehen ließ. Ich selbst konnte mich darin nur auf einem Gebiet versuchen: in der Literatur. Zeichnen war für mich Kopieren, und daran war mir so wenig gelegen, dass ich es zu nichts brachte; ich nahm ein Objekt als Ganzes in mich auf, ohne den Details meiner Wahrnehmung die geringste Aufmerksamkeit zu schenken; ich scheiterte jedes Mal an der Aufgabe, auch nur die schlichteste Blume wiederzugeben. Hingegen wusste ich mich der Sprache zu bedienen, und da diese der Substanz der Dinge Ausdruck gab, erhellte sie sie auch. Ich hatte spontan die Tendenz, alles zu erzählen, was mir widerfuhr: Ich sprach viel und schrieb gern. Wenn ich eine Episode aus meinem Leben schriftlich niederlegte, so entriss ich sie der Vergessenheit, sie interessierte andere Leute, sie war endgültig gerettet. Ich erfand auch gern Geschichten; insofern sie durch meine Erfahrungen inspiriert waren, waren sie für diese zugleich eine Rechtfertigung; in gewisser Weise freilich dienten sie zu nichts, waren aber dennoch einzig und unersetzlich, sie existierten, und ich war stolz darauf, sie aus dem Nichts gezogen zu haben. Ich verwendete also immer viel Sorgfalt auf meinen ‹französischen Aufsatz›, sodass ich sogar einzelne von ihnen in das ‹goldene Buch› übertrug.
    Im Juli machte es mir der Ausblick auf die Ferien möglich, ohne allzu großes Bedauern vom Cours Désir Abschied zu nehmen. Waren wir wieder in Paris, so wartete ich freilich fieberhaft auf den Wiederbeginn des Unterrichts. Ich ließ mich neben dem Bücherschrank aus schwarzem Birnbaumholz in einem Ledersessel nieder und genoss es, wenn ich die neuen Bücher mit einem knackenden Laut auseinanderbiegen, ihren Geruch einatmen, die Bilder, die Karten betrachten und eine Seite Weltgeschichte überfliegen konnte; ich hätte gern mit einem einzigen Blick alle Personen, alle Landschaften, die sich im Dunkel der weißen und schwarzen Seiten verbargen, zum Leben erweckt. Ebenso sehr wie ihre stumme Gegenwart hatte meine Macht über sie etwas Berauschendes für mich.
    Neben meinen Studien war die große Angelegenheit meines Lebens die Lektüre. Mama bezog die ihre jetzt aus der Bibliothèque Cardinale an der Place Saint-Sulpice. Ein mit Zeitschriften und Magazinen beladener Tisch nahm die Mitte des großen Raumes ein, von dem die mit Büchern dicht besetzten Korridore ausgingen: Die Kunden hatten das Recht, in diesen umherzuwandeln! Ich erlebte eine der größten Freuden meiner Kindheit an dem Tage, an dem Mama mir dort ein Abonnement auf meinen Namen schenkte. Ich stellte mich vor

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