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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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meiner Tage war ebenso zwingend für mich wie der Rhythmus der Jahreszeiten: Die geringste Abweichung erschien mir daher als etwas ganz Außergewöhnliches. In der weichen Abenddämmerung, zu der Stunde, zu der gewöhnlich Mama den Riegel vor die Wohnungstür legte, noch draußen umherzustreifen war etwas ebenso Überraschendes und Poetisches wie mitten im tiefsten Winter ein blühender Weißdornstrauch.
    Ein völlig ungewöhnlicher Abend war der, an dem wir auf der Terrasse von ‹Prévost› gegenüber dem Gebäude des
Matin
Schokolade tranken. Nachrichten in Leuchtbuchstaben kündeten die Peripetien des Boxkampfes, der in New York zwischen Charpentier und Dempsey ausgetragen wurde. Der Platz war schwarz von Menschen. Als Charpentier k.o. geschlagen wurde, brachen manche der Männer und Frauen in Tränen aus; voller Stolz, diesem großen Ereignis gleichsam beigewohnt zu haben, kehrte ich nach Hause zurück. Aber unsere gewöhnlichen Abende in dem rundum geschlossenen Arbeitszimmer waren mir nicht weniger lieb; mein Vater las uns
Le voyage de Monsieur Perrichon
vor, oder aber wir lasen, nebeneinandersitzend, jeder in seinem Buch für sich. Ich blickte meine Eltern, meine Schwester an und verspürte ein warmes Gefühl im Herzen. ‹Wir vier!›, dachte ich voll Entzücken, und weiter noch: ‹Wie glücklich wir doch sind!›
    Eine einzige Sache wirkte von Zeit zu Zeit verdüsternd auf mein Gemüt: Eines Tages, das wusste ich, würde dieser Abschnitt meines Lebens zu Ende sein. Es kam mir ganz unfassbar vor. Wie kann man, wenn man zwanzig Jahre lang seine Eltern liebt, sie dann doch, ohne vor Kummer zu sterben, verlassen, um einem Unbekannten zu folgen? Und wie kann man, nachdem man zwanzig Jahre lang ohne ihn ausgekommen ist, von einem Tage zum andern einen Mann lieben, der einem gar nichts ist? Ich fragte Papa. «Ein Mann, den man heiratet, ist etwas anderes», antwortete er mir; er lächelte dabei ein wenig auf eine Weise, aus der ich nicht klug werden konnte. Ich betrachtete die Ehe bisher immer mit Missbehagen. Ich sah nicht gerade Knechtschaft darin, denn Mama wirkte nicht unterdrückt; doch die Enge des Zusammenlebens widerstand mir durchaus. ‹Abends im Bett›, sagte ich mir mit Grauen, ‹kann man nicht einmal ruhig weinen, wenn man Lust dazu hat!› Ich weiß nicht, ob mein Glück eben doch von Traurigkeiten unterbrochen war, jedenfalls überließ ich mich oft des Nachts zum puren Vergnügen den Tränen; wenn ich mich hätte zwingen sollen, diese Tränen zurückzuhalten, hätte das für mich die Entziehung jenes Minimums an Freiheit bedeutet, nach dem ich ein unabweisbares Verlangen in mir trug. Den ganzen Tag über fühlte ich, dass Blicke auf mich gerichtet waren; ich liebte meine Umgebung, doch wenn ich abends schlafen ging, empfand ich es als große Erleichterung, dass ich nun endlich einmal ein Weilchen ohne Zeugen leben würde; dann konnte ich mit mir selbst zu Rate gehen, mich erinnern, Gefühlen der Rührung nachgeben, auf jenes zaghafte Raunen lauschen, das die Gegenwart der Erwachsenen unweigerlich erstickt. Es wäre mir verhasst gewesen, dieser Erholung beraubt zu sein. Wenigstens eine kleine Weile lang musste ich, jedem Anspruch entrückt, in Frieden mit mir selbst sprechen können, ohne dass irgendjemand mich dabei unterbrach.
     
    Ich war sehr fromm; zweimal im Monat beichtete ich bei Abbé Martin, ich ging wöchentlich zweimal zur hl. Kommunion und las jeden Morgen ein Kapitel der
Imitatio Christi
; zwischen den Unterrichtsstunden schlich ich mich in die Kapelle des Instituts und betete dort lange Zeit mit dem Gesicht in den Händen; oft im Laufe des Tages erhob ich meine Seele zu Gott. Ich interessierte mich nicht mehr für das Jesuskind, betete aber Christus inbrünstig an. Ich hatte aufregende Romane gelesen, die an die Handlung der Evangelien anknüpften und deren Held er war; ich betrachtete wie eine Liebende sein zartes, trauriges Angesicht; über ölbaumbewachsene Hügel hinweg folgte ich dem Schimmer seines weißen Gewandes, ich netzte mit meinen Tränen seine nackten Füße, und er lächelte mir zu, wie er Maria Magdalena zugelächelt hatte. Hatte ich lange genug seine Knie und seinen blutenden Leib umarmt, ließ ich ihn wieder zum Himmel entschweben. Dort wurde er eins mit dem geheimnisvollen Wesen, dem ich mein Leben verdankte und dessen Glanz mich eines Tages für immer beseligen würde.
    Welcher Trost, ihn dort oben zu wissen! Man hatte mir gesagt, er liebe jedes seiner

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