Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
die Abteilung, die den ‹Werken für die Jugend› reserviert war und in der allein Hunderte von Bänden aufgereiht standen. ‹Alles das gehört mir!›, stellte ich entzückt bei mir fest. Die Wirklichkeit übertraf noch meine kühnsten Träume: Vor mir tat sich ein mir bis dahin unbekanntes Paradies des Überflusses auf. Ich nahm einen Katalog mit nach Hause; mit Hilfe meiner Eltern traf ich meine Wahl unter den mit einem J bezeichneten Werken und stellte Listen auf; jede Woche schwankte ich mit wonnevollen Gefühlen zwischen vielfältigen Begierden. Außerdem ging meine Mutter zuweilen mit mir in einen kleinen Laden in der Nähe meiner Unterrichtsstätte, um englische Romane einzukaufen; sie wurden gründlich verschlissen, denn ich brauchte eine gewisse Zeit, um sie zu entziffern. Ich fand ein großes Vergnügen daran, mit Hilfe eines Wörterbuchs den dichten Schleier der Worte aufzuheben: An den Beschreibungen und Erzählungen blieb sogar ein gewisses Maß von Geheimnis haften; so kamen sie mir reizvoller und tiefgründiger vor, als wenn ich sie auf Französisch gelesen hätte.
In diesem Jahre schenkte mein Vater mir
L’Abbé Constantin
in einer schönen, von Madeleine Lemaire illustrierten Ausgabe. Eines Sonntags führte er mich in die Comédie-Française, wo das nach diesem Roman arrangierte Theaterstück aufgeführt wurde; zum ersten Male war ich in einem richtigen, von Erwachsenen besuchten Theater; ich setzte mich tief bewegt auf meinen roten Parkettsitz und lauschte andachtsvoll den Worten der Schauspieler; sie enttäuschten mich etwas; das gefärbte Haar, die affektierte Redeweise von Cécile Sorel entsprachen nicht dem Bild, das ich mir von Madame Scott gemacht hatte. Zwei oder drei Jahre später gab ich mich, wenn ich beim
Cyrano
weinte, beim
Aiglon
schluchzte und bei
Britannicus
erbebte, mit Leib und Seele dem Zauber der Bühne hin. An diesem Nachmittag jedoch war das, was mich mir selbst entrückte, weniger die Vorstellung an sich als vielmehr dieses Zusammensein zu zweien mit meinem Vater; allein mit ihm ein Stück anzusehen, das er für mich ausgewählt hatte, schuf zwischen uns ein so unverbrüchliches Band, dass ich ein paar Stunden lang den Eindruck hatte, er gehöre nur mir.
Zu jener Zeit neigten meine Gefühle für meinen Vater überhaupt zum Überschwang. Er war häufig bedrückt. Er sagte, Foch habe sich zu Unrecht beeinflussen lassen, man hätte bis nach Berlin weitermarschieren sollen. Er sprach viel von den Bolschewiken – deren Name in ominöser Weise an den der Boches erinnerte –, die ihn zugrunde gerichtet hatten. Seine Prognosen für die Zukunft waren derart schlecht, dass er nicht wagte, sein Rechtsanwaltsbüro wieder aufzumachen. In der Fabrik seines Schwiegervaters nahm er die Stelle eines zweiten Direktors an. Er hatte auch sonst schon Schwierigkeiten erlebt: Infolge des Bankrotts, den mein Großvater sich geleistet hatte, war die Mitgift meiner Mutter niemals ausgezahlt worden. Jetzt, nachdem seine Laufbahn zerstört war und die ‹Russen›, die den Hauptbestandteil seines Kapitals gebildet hatten, dahingeschwunden waren, reihte er sich seufzend in die Kategorie der ‹neuen Armen› ein. Er bewahrte jedoch immer noch einen gewissen Gleichmut und stellte lieber die gegenwärtige Welt in Frage, als dass er sich in Selbstbedauern erging; es bewegte mich tief, dass ein so überlegener Mann sich derart selbstverständlich mit seiner bedrängten Lage abfand. Eines Tages sah ich ihn im Rahmen einer Wohltätigkeitsveranstaltung in
La Paix chez soi
von Courteline auftreten. Er spielte den betriebsamen, von Geldsorgen geplagten und durch die kostspieligen Launen seiner kindlich-naiven Frau überforderten Feuilletonisten; die Frau hatte keinerlei Ähnlichkeit mit Mama; dennoch identifizierte ich meinen Vater mit dem Charakter, den er darzustellen hatte; er tat es mit einer illusionslosen Ironie, die mich zu Tränen rührte; es lag Schwermut in seiner Resignation: Die verschwiegene Wunde seines Innern, deren Existenz ich erriet, stattete ihn mit einer neuen Höherwertigkeit aus. Ich liebte ihn auf romantische Art.
An schönen Sommertagen machte er manchmal mit uns einen Rundgang durch den Luxembourggarten; auf einer Terrasse an der Place Médicis aßen wir Eis und gingen dann noch einmal durch den Park, dessen Schließung ein Trompetensignal verkündete. Ich neidete den Bewohnern des Senatsgebäudes ihre nächtlichen Träumereien in den verlassenen Alleen. Die feste Einteilung
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