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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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führen würde: Oder konnte man etwa
nichts
anstelle von
allem
wählen?
    Diese Zukunft wurde für mich zu einem bequemen Alibi. Sie gestattete mir, mehrere Jahre hindurch noch bedenkenlos alle Güter der Welt zu genießen.
     
    Mein Glück erreichte seinen Höhepunkt in den zweieinhalb Monaten, die ich auf dem Lande verbrachte. Meine Mutter war dort in ausgeglichenerer Stimmung als zu Hause in Paris; mein Vater widmete sich mir mehr; um zu lesen und mit meiner Schwester zu spielen, verfügte ich über unbegrenzte Muße. Den Cours Désir vermisste ich nicht allzu sehr: Die Notwendigkeit, die das Lernen meinem Leben auferlegte, strahlte auf meine Ferien zurück. Meine Zeit war dann nicht mehr durch feste Anforderungen geregelt, deren Fehlen aber wurde durch die Unendlichkeit der Horizonte, die sich meiner Neugier eröffneten, reichlich kompensiert. Ich erforschte sie auf eigene Faust, die Erwachsenen standen nicht mehr als Mittler zwischen der Welt und mir. Ich schwelgte nunmehr in Einsamkeit und Freiheit, die mir im sonstigen Jahreslauf nur spärlich zugeteilt waren. Alle meine Instinkte kamen hier gemeinsam zu ihrem Recht: mein treues Festhalten am Vergangenen, mein Vergnügen an allem, was neu für mich war, die Liebe zu meinen Eltern und das Streben nach Unabhängigkeit.
    Gewöhnlich hielten wir uns zunächst ein paar Wochen in La Grillère auf. Das Schloss kam mir unendlich groß und alt vor; in Wirklichkeit stand es kaum fünfzig Jahre, aber keiner der Gegenstände, die während dieses halben Jahrhunderts ins Haus gekommen waren, hatte es jemals wieder verlassen. Niemand rührte eine Hand, um die Asche der Zeiten fortzukehren: Man atmete noch den Duft alter erloschener Existenzen ein. An den Wänden des mit Fliesen belegten Eingangsraumes hing eine Sammlung von Jagdhörnern aus glänzendem Messing, die – trügerischerweise, glaube ich – den Glanz verflossener Hetzjagden noch einmal heraufbeschwören sollte. Im ‹Billardsaal›, in dem wir uns gewöhnlich aufhielten, setzten ausgestopfte Füchse, Bussarde und Milane diese blutrünstige Tradition ebenfalls fort. Es stand kein Billard in dem Raum, sondern ein monumentaler Kamin, ein sorgfältig abgeschlossener Bücherschrank und ein Tisch, auf dem Nummern einer französischen Jagdzeitschrift lagen; vergilbte Fotografien, Bündel von Pfauenfedern, Steine, Terrakotten, Barometer, Standuhren, die nicht gingen, und für immer erloschene Lampen standen und lagen auf kleinen Tischen umher. Alle Räume außer dem Speisezimmer wurden selten benutzt, unter anderem ein naphthalinduftender Salon, ein kleiner Salon, ein Schulzimmer und eine Art von Büro mit immer verschlossen gehaltenen Läden, das als Abstellraum diente. In einem Verschlag, der stark nach Leder roch, ruhten Generationen von Reitstiefeln und von Straßenschuhen aus. Zwei Treppen führten zu den oberen Geschossen, an deren Korridoren mehr als ein Dutzend Schlafzimmer lagen, die meist zweckentfremdet und mit staubigem Krimskrams angefüllt waren. Eines von ihnen bewohnte ich mit meiner Schwester zusammen. Wir schliefen in Betten mit säulengetragenem Baldachin. Bilder, die aus der
Illustration
ausgeschnitten und unter Glas gerahmt waren, schmückten die Wände.
    Der lebendigste Ort des Hauses war die Küche, die die Hälfte des Souterrains einnahm. Dort bekam ich mein erstes Frühstück, das aus Milchkaffee und Schwarzbrot bestand. Hinter der Fensterluke sah man Hühner, Perlhühner, Hunde, manchmal auch Menschenbeine vorbeispazieren. Ich liebte den massiven Holztisch darin, die Bänke und die Truhen, den gusseisernen Herd, aus dem die Flammen stoben, das rasselnde Kupfergeschirr: Kasserollen von jeder Größe, Kessel, Schaumlöffel, Wannen und Wärmpfannen; die heitere Buntheit der Fayenceschüsseln mit ihren kindlichen Farben, die Vielheit der Näpfe, Tassen, Gläser, Tiegel, Horsd’œuvre-Schalen, Töpfe, Kannen und Weinkrüge amüsierten mich. Welche Unzahl von Bouillontöpfen, Pfannen, Schmortöpfen, Milchsiedern, Tiegelchen, Suppenschüsseln, Platten, Schalen, Sieben, Hackmessern, Mühlen, Mühlchen und Mörsern aus Gussstahl, aus Ton, aus Steingut, aus Porzellan, aus Aluminium, aus Zinn gab es da! Auf der anderen Seite des Korridors, da, wo die Tauben gurrten, war die Milchkammer untergebracht. Glasierte Satten und Näpfe, Butterfässer aus poliertem Holz, Butterklumpen, weiße, glattflächige Käse, die mit weißem Mull zugedeckt waren: Die hygienische Kahlheit des Raumes und der darin

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