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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Geißblatts, des blühenden Buchweizens berauscht, lagerten wir uns im Moos oder Gras und lasen. Manchmal auch verbrachte ich den Nachmittag allein im ‹Landschaftspark› und schwelgte in meiner Lektüre, während ich gleichzeitig die Schmetterlinge umherflattern und die Schatten länger werden sah.
    An Regentagen blieben wir zu Hause. Während ich unter dem Zwang durch menschliche Willensbeschlüsse litt, hatte ich gar nichts gegen den, den die Dinge mir auferlegten. Ich hielt mich gern im Salon mit den grünen Plüschsesseln und den vergilbten Mullvorhängen vor den Fenstern auf; eine Menge toter Dinge starben auf dem Marmorsims des Kamins, auf Tischen und Kredenzen vollends dahin; die ausgestopften Vögel verloren ihre Federn, die getrockneten Blumen zerfielen, die Muscheln büßten ihren Schimmer ein. Ich stieg auf einen Hocker und durchforschte die Bibliothek; dort entdeckte ich mehrere Bände Cooper oder irgendein Bildermagazin mit rostfleckigen Gravüren, das ich noch nicht kannte. Ein Klavier war da, doch mehrere Tasten waren stumm und die Saiten verstimmt; Mama schlug auf ihrem Pult die Partitur des
Großmoguls
oder von
Jeanettes Hochzeit
auf und sang Großvaters Lieblingsmelodien; er wiederholte dann mit uns zusammen den Refrain.
    Wenn schönes Wetter war, ging ich nach dem Abendessen noch ein Weilchen in den Park; unter der Milchstraße atmete ich den pathetischen Duft der Magnolien ein, während ich nach Sternschnuppen Ausschau hielt. Dann stieg ich mit einem Kerzenleuchter in der Hand die Treppe hinauf, um mich schlafen zu legen. Ich hatte ein Zimmer für mich allein. Es ging auf den Hof hinaus und lag dem Holzschuppen, dem Waschhaus, der Remise gegenüber, die eine Viktoria und einen Landauer barg, beide überaltert wirkend wie antike Karossen; die Winzigkeit dieses Zimmers hatte besonderen Reiz für mich; es enthielt ein Bett, eine Kommode und – auf einer Art von Truhe – eine Waschschüssel und einen Krug. Es war eine Zelle, die ganz meinen Maßen entsprach wie einstmals die Nische unter Papas Schreibtisch, in die ich mich verkroch. Obwohl mich die Gegenwart meiner Schwester im Allgemeinen nicht störte, entzückte mich doch das Alleinsein sehr. Wenn mir der Sinn nach Heiligkeit stand, benutzte ich die Gelegenheit, die Nacht auf dem bloßen Fußboden zu verbringen. Vor allem aber hielt ich mich, bevor ich zu Bett ging, noch lange an meinem Fenster auf, und oft erhob ich mich, um den friedlichen Atem der Nacht auf mich wirken zu lassen. Ich beugte mich hinaus, ich tauchte meine Hände in die Kühle eines Kirschlorbeerbusches. Das Wasser des Brunnens rann glucksend auf einen grünlichen Stein; manchmal schlug eine Kuh mit dem Huf an die Stalltür: Ich konnte mir dann den Geruch von Heu und von Stroh vorstellen. Monoton, eintönig wie das Pochen des Herzens zirpte eine Grille. Unter dem unendlichen Schweigen, der Unendlichkeit des Himmels kam es mir vor, als ob die Erde mit ihrem Echo auf die Stimme in mir antwortete, die unaufhörlich raunte: ‹Ich bin da›; mein Herz zuckte von lebendiger Glut beim kalten Feuer der Sterne. Oben war Gott, er schaute auf mich herab; vom kühlen Winde umschmeichelt, von Düften berauscht, fühlte ich mich durch das Fest meines Blutes mit Ewigkeit beschenkt.
     
    Ein Wort kehrte oft in den Reden der Erwachsenen wieder: ‹Das ist ungehörig.› Der Inhalt dieses Adjektivs blieb etwas in der Schwebe. Zuerst hatte ich ihm einen mehr oder weniger skatologischen Sinn beigelegt. In
Les Vacances
von Madame de Ségur erzählte eine der darin auftretenden Personen eine Geschichte von einem Gespenst, einem Nachtmahr, einem schmutzigen Betttuch, die mich ebenso sehr wie meine Eltern schockierte; damals verband sich für mich der Begriff der Unanständigkeit mit den niedrigen Funktionen des Körpers; später erfuhr ich, dass dieser in seiner Gesamtheit durch deren Rohheit gezeichnet war: Man hatte ihn zu verbergen; seine Unterkleidung oder seine Haut sehen zu lassen – außer an einigen genau festgelegten Stellen – wurde als höchst unpassend angesehen. Gewisse Einzelheiten der Kleidung, gewisse Stellungen waren ebenso tadelnswert wie indiskrete Entblößung. Diese Verbote betrafen besonders das weibliche Geschlecht; eine Dame, die wusste, was sich gehört, durfte weder zu weit dekolletiert noch mit zu kurzen Röckchen erscheinen, ihr Haar weder färben noch kurz schneiden, sich nicht schminken, sich nicht auf einem Diwan rekeln noch ihren Mann in den Schächten der

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