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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Krocketplatz auf den vier Mädchen in Leinenschürzen ruhte; er machte bei mir halt, und eine Stimme raunte: «Diese ist den anderen nicht gleich.» Es war geradezu lachhaft, mich allen Ernstes mit einer Schwester oder Cousinen zu vergleichen, die gar nichts Höheres im Sinne hatten. Mit ihnen hatte ich gewissermaßen alle meinesgleichen vor Augen; das bestärkte mich darin, dass ich ein Ausnahmegeschöpf sein würde.
    Übrigens gab ich mich diesem stolzen Anspruch nur ziemlich selten hin: Die Beachtung, die ich ohnehin fand, machte es überflüssig. Und wenn ich mich zuweilen als etwas Exzeptionelles erachtete, ging ich doch niemals mehr so weit, mich für einzigartig zu halten. Fortan war meine Arroganz durch die Gefühle gemildert, die eine andere in mir weckte. Ich hatte das Glück gehabt, der Freundschaft zu begegnen.
     
    An dem Tage, als ich in die Vier A eintrat – ich war damals fast zehn Jahre alt –, hatte eine Neue den Platz neben meinem eingenommen, ein dunkles kleines Mädchen mit kurzgeschnittenem Haar. Als wir am Ende des Unterrichts auf Mademoiselle warteten, kamen wir ins Gespräch. Sie hieß Elizabeth Mabille und war so alt wie ich. Der Unterricht, den sie zuerst im Elternhause erhalten hatte, war durch einen schweren Unfall unterbrochen worden; auf dem Lande war beim Kartoffelnrösten ihr Kleid vom Feuer erfasst worden; ihr Schenkel trug eine Verbrennung dritten Grades davon, sie hatte nächtelang geschrien vor Schmerz. Ein Jahr lang hatte sie liegen müssen; unter ihrem Faltenrock war das Fleisch noch wulstig aufgeschwollen. Etwas derart Außergewöhnliches war mir nie zugestoßen: Sie kam mir daraufhin sofort wie eine Persönlichkeit von Bedeutung vor. Ich war erstaunt, wie sie mit den Lehrerinnen sprach; ihre natürliche Art stand im Gegensatz zu den stereotypen Stimmen der anderen Schülerinnen; sie machte wundervoll Mademoiselle Bodet nach; alles, was sie sagte, war interessant oder amüsant.
    Trotz der Lücken, die sich aus ihrer erzwungenen Muße ergaben, reihte Elizabeth sich bald unter die Ersten der Klasse ein; im Aufsatz allerdings blieb ich ihr überlegen. Unser Wetteifer gefiel unseren Lehrmeisterinnen, sie förderten unsere Freundschaft daraufhin. Bei der kleinen Festlichkeit, die alljährlich um Weihnachten herum stattfand, ließen sie uns zusammen ein kleines Lustspiel aufführen. In einem rosa Kleid, das Gesicht von langen Locken umgeben, stellte ich Madame de Sévigné als Kind dar; Elizabeths Rolle war die eines turbulenten jungen Vetters; ihr Kostüm stand ihr reizend, sie entzückte die Zuhörerschaft durch ihre Lebhaftigkeit und Natürlichkeit. Die Proben, unser gemeinsames Auftreten im Rampenlicht führten uns noch näher zusammen; wir hießen seitdem ‹die beiden Unzertrennlichen›.
    Mein Vater und meine Mutter fragten sich lange Zeit, welchem Zweig der verschiedenen Familien Mabille Elizabeths Eltern angehören könnten; sie kamen schließlich zu dem Ergebnis, dass sie mit ihnen wahrscheinlich entfernte gemeinsame Bekannte hätten. Ihr Vater war Eisenbahningenieur in ziemlich hoher Stellung; ihre Mutter, eine geborene Larivière, gehörte einer Dynastie von kämpferisch hervorgetretenen Katholiken an; sie hatte neun Kinder und war bei allen Werken der Nächstenhilfe von Saint-Thomas-d’Aquin mitbeteiligt. Manchmal erschien sie in der Rue Jacob. Sie war eine schöne Vierzigerin, dunkel, mit feurigen Augen und einem weichen Lächeln; um den Hals trug sie ein schwarzes Samtband mit einem antiken Schmuckstück als Verschluss. Durch ihre distinguierte Liebenswürdigkeit wurde ihre natürliche königliche Würde ein wenig gemildert. Sie gewann Mama für sich, indem sie sie ‹Kleine Frau› nannte und ihr sagte, sie sehe aus, als ob sie meine ältere Schwester sei. Jedenfalls erhielten wir beide, Elizabeth und ich, die Erlaubnis, miteinander zu spielen.
    Das erste Mal begleitete mich meine Schwester in die Rue de Varennes; wir waren beide recht aufgeregt. Elizabeth – die im Familienkreise Zaza genannt wurde – hatte eine große Schwester, einen großen Bruder, sechs Brüder und Schwestern, die jünger waren als sie, und einen Haufen von Vettern und kleinen Freunden. Sie liefen, sprangen, schlugen sich, stiegen auf die Tische, stießen die Möbel um und vollführten ein großes Geschrei. Als gegen Ende des Nachmittags Madame Mabille ins Zimmer trat, hob sie einen Stuhl auf und trocknete lächelnd eine heiße Kinderstirn; ich staunte über ihre Gleichgültigkeit gegen

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