Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
einbegriffen, zärtliche Zuneigung hegte. Meine Eltern, meine Schwester liebte ich; dieses Wort enthielt alles. Die Nuancen meiner Gefühle, ihre Schwankungen, hatten kein Recht auf Existenz. Zaza war meine beste Freundin, weiter gab es da nichts. In einem wohlgeordneten Herzen nimmt die Freundschaft einen ehrenvollen Platz ein, doch hat sie nicht den Glanz und das Geheimnis der Liebe noch die geheiligte Würde kindlicher Anhänglichkeit. Ich stellte diese Hierarchie keineswegs in Frage.
In diesem Jahre wie in den anderen bescherte mir der Monat Oktober die fieberhafte Freude des neuen Schulanfangs. Die frisch gekauften Bücher knackten in meinen Händen und rochen gut. Auf meinem Ledersessel sitzend, berauschte ich mich an Zukunftsverheißungen.
Keine davon traf ein. In den Anlagen des Luxembourggartens fand ich den Duft und die Farben des Herbstes zwar wieder, doch sie berührten mich nicht mehr; das Blau des Himmels hatte sich getrübt. Der Unterricht langweilte mich; ich lernte meine Lektionen, freudlos erledigte ich meine Schulaufgaben und betrat morgens mit Gleichgültigkeit die Räume des Cours Désir. Wohl stand die Vergangenheit von neuem vor mir auf, aber ich erkannte sie nicht: Sie hatte alle Farbe eingebüßt; meine Tage verliefen ohne Reiz. Alles wurde mir gegeben, doch meine Hände blieben leer. Neben Mama schritt ich den Boulevard Raspail entlang und fragte mich plötzlich voller Angst: ‹Was ist denn geschehen? Ist das mein Leben? War es immer nur das? Wird es so weitergehen?› Bei dem Gedanken, bis in alle Unendlichkeit Wochen, Monate, Jahre zu durchleben, die von keiner Erwartung, keiner Verheißung her Licht empfangen würden, stockte mir der Atem: Man hätte meinen können, dass ohne jede vorherige Ankündigung die Welt gestorben wäre. Sogar diese Angst und Not wusste ich nicht zu benennen.
Vierzehn Tage lang schleppte ich mich von Stunde zu Stunde, von einem Tage zum anderen mit gleichsam wankenden Knien hin. Eines Nachmittags legte ich in der Garderobe des Instituts meine Sachen ab, als Zaza erschien. Wir fingen an, miteinander zu reden, uns Dinge zu erzählen und mit Kommentar zu versehen; die Worte auf meinen Lippen überstürzten sich, und in meiner Brust kreisten tausend Sonnen; in einem Freudentaumel sagte ich mir: ‹
Sie
hat mir gefehlt!› So radikal war noch meine Unkenntnis aller wahren Erlebnisse des Herzens, dass ich niemals auf den Gedanken gekommen war, mir zu sagen: ‹Ich leide unter ihrer Abwesenheit.› Ich brauchte ihre Gegenwart, um mir klarzumachen, wie notwendig sie mir geworden war. Es war eine blitzartige Offenbarung. Jäh lösten sich Konventionen, festgewordene Gewohnheiten, Klischees vor meinen Augen in Nebel auf, eine tiefe Bewegung, die in keiner Satzung vorgesehen war, überflutete mich. Ich ließ mich ganz von dieser Freude tragen, die stark und frisch in mir strömte wie das Wasser der Kaskaden und nackt und offenbar dalag wie ein schöner Granit. Ein paar Tage darauf erschien ich etwas zu früh im Institut und starrte ungläubig auf Zazas Sitz: ‹Wenn sie dort niemals wieder säße – was würde dann aus mir?› Und von neuem ging mir blendend eine Enthüllung auf: ‹Ich kann nicht mehr leben ohne sie.› Es war erschreckend für mich: Sie kam und ging, auch wenn sie ferne von mir war, und dennoch ruhte mein Glück, mein Dasein ausschließlich in ihren Händen. Ich stellte mir vor, wie etwa Mademoiselle Gontran mit ihrem langen Rock über den Boden fegend hereinkommen und uns sagen würde: ‹Betet, liebe Kinder! Eure kleine Gefährtin Elizabeth Mabille ist gestern Nacht zu unserem Herrgott gerufen worden.› Ganz sicher, so sagte ich mir, würde ich daraufhin im gleichen Augenblick sterben! Ich würde von meinem Schulsitz sinken und tot auf den Boden fallen. Diese Lösung beruhigte mich. Ich glaubte nicht, dass ernstlich die göttliche Gnade mir das Leben zu rauben vorhätte; aber ich fürchtete auch nicht mehr wirklich, dass Zaza sterben könnte. Ich hatte mir nur einmal klargemacht, wie weit die Abhängigkeit ging, die meine Zuneigung mir auferlegte: Allen Folgen davon jedoch wagte ich nicht ins Auge zu sehen.
Ich erhob nicht den Anspruch, dass Zaza für mich ein ebenso eindeutiges Gefühl hegen müsse; es genügte mir, ihre bevorzugte Kameradin zu sein. Die Bewunderung, die ich ihr entgegenbrachte, setzte meinen eigenen Wert in meinen Augen nicht herab. Liebe ist nicht Neid. Ich konnte mir auf der Welt nichts Besseres denken, als ich selbst zu sein
Weitere Kostenlose Bücher