Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
abgesperrten Raum und die verknöcherte Zeit der Erwachsenen zurückzubegeben und in sie einzuordnen. Eines Abends vergaß ich Ort und Stunde. Es war in La Grillère. Ich hatte lange, am Ufer eines Teiches sitzend, eine Geschichte des hl. Franziskus von Assisi gelesen: Als es dämmrig wurde, hatte ich das Buch zugeklappt; im Grase liegend, betrachtete ich den Mond; er glänzte über einem vom ersten Tau der Nacht betränten Umbrien: Die Süße der Stunde überwältigte mich. Ich hätte sie in all ihrer Flüchtigkeit festhalten, sie mit Worten für immer aufs Papier bannen mögen; es wird andere Stunden geben, sagte ich mir, und ich werde lernen, wie man sie festhalten kann. Ich blieb auf dem Boden liegen, den Blick unbeweglich zum Himmel gewandt. Als ich die Tür des Billardzimmers öffnete, hatten sie drinnen bereits fast fertig zur Nacht gegessen. Es gab einen riesengroßen Krach, an dem auch Papa sich stimmstark beteiligte. Mama verfügte als Gegenmaßnahme, ich dürfe am nächsten Tag keinen Fuß aus dem Park hinaussetzen. Einfach ungehorsam zu sein wagte ich freilich nicht. Ich verbrachte den Tag damit, auf dem Rasen zu sitzen oder, ein Buch in der Hand und Zorn im Herzen, in den Alleen spazieren zu gehen. Da drüben schlug das Wasser im Teiche Wellen und glättete sich wieder ohne mich, ohne einen Zeugen; es war unerträglich. ‹Wenn es noch regnete›, sagte ich mir, ‹wenn ein wirklicher Grund bestände, würde ich es ertragen.› So fand ich in unveränderter Form die Revolte in mir wieder vor, die früher schon in mir wütete; ein beiläufig hingeworfenes Wort genügte, mich um eine Freude, eine Erfüllung zu bringen; diese Beraubung der Welt und meiner selbst aber war für nichts und für niemanden nützlich. Glücklicherweise wiederholte diese Zwangsmaßnahme sich nicht. Alles in allem verfügte ich, wofern ich pünktlich zu den Mahlzeiten erschien, frei über meine Tage.
Meine Ferien bewahrten mich davor, die Freuden der Betrachtung mit Langeweile zu verwechseln. In Paris, in den Museen, kam es vor, dass ich mich selbst betrog; aber ich kannte doch den Unterschied zwischen erzwungener Bewunderung und aufrichtiger Ergriffenheit. Ich lernte auch, dass man, um in das Geheimnis der Dinge einzudringen, sich ihnen zuvor hingeben muss. Im Allgemeinen trug meine Neugier die Züge der Gier schlechthin; ich glaubte schon zu besitzen, was ich nur kannte, und es bereits beim bloßen Überfliegen zu kennen. Um aber ein Eckchen der Landschaft mir wirklich zu eigen zu machen, streifte ich Tag für Tag durch die Hohlwege hin und stand stundenlang unbeweglich am Fuße eines Baumes: Dann rührte wirklich jede Schwingung der Luft, jede Nuance des Herbstes mich an.
Ich fand mich schlecht damit ab, wieder in Paris zu sein. Ich setzte mich auf den Balkon: Überall sah ich nur Dächer; der Himmel war nichts weiter als ein geometrischer Ort, die Luft war nicht mehr Duft und Schmeichelei, sondern wurde eins mit dem leeren Raum. Die Geräusche der Straße sprachen nicht zu mir. Mit leerem Herzen und tränenfeuchten Augen saß ich da.
In Paris geriet ich wieder unter die Macht der Erwachsenen. Auch weiterhin fand ich mich ohne Kritik mit ihrer Weitsicht ab. Man kann sich keine Unterweisung vorstellen, die sektiererischer wäre als die, welche ich erhielt. Nachschlagewerke für den Unterricht, Bücher, Lehrstunden, Unterhaltungen, alles diente dem gleichen Ziel. Niemals ließ man mich auch nur von ferne oder ganz gedämpft einen anderen Ton vernehmen.
Ich lernte Geschichte ebenso gefügig wie Geographie, ohne zu ahnen, dass sie etwas war, was mehr Anlass zu Diskussionen bot. Als ich noch ganz klein war, fühlte ich mich im Musée Grévin tief ergriffen angesichts der den Löwen ausgelieferten Märtyrer oder beim Anblick der edlen Gestalt von Marie-Antoinette. Die Kaiser, die die Christen verfolgt hatten, die strickenden Frauen und die Sansculotten kamen mir wie die abscheulichsten Verkörperungen des Bösen vor. Das Gute war die Kirche und Frankreich. In der Schule lernte ich Einzelheiten über Päpste und Konzilien; weit mehr aber interessierte ich mich für die Geschicke meines eigenen Landes; seine Vergangenheit, seine Gegenwart, seine Zukunft gaben zu Hause den Stoff für zahlreiche Gespräche ab; Papa las mit Entzücken die Werke von Madelin, Lenôtre oder Funck-Brentano; man gab mir viele historische Romane und Erzählungen sowie die ganze, von Madame Carette gereinigte Memoirenliteratur zu lesen. Gegen mein neuntes
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