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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Klingelzeichen erkannten. Eines Abends kam er so spät, dass wir bereits zu Bett gegangen waren. Im Nachthemd stürzten wir ins Arbeitszimmer. «Aber Kinder!», sagte meine Mutter, «so könnt ihr doch nicht erscheinen! Dafür seid ihr doch schon zu groß!» Ich war erstaunt. Immer hatte ich Jacques als eine Art von Bruder angesehen. Er half mir bei meinen lateinischen Übersetzungen, kritisierte die Auswahl meiner Lektüre und sagte mir Gedichte auf. Eines Abends rezitierte er auf dem Balkon
La Tristesse d’Olympio
, und ich erinnerte mich mit einem leisen Weh im Herzen, dass wir verlobt gewesen waren. Jetzt führte er richtige Gespräche nur mit meinem Vater.
    Er war Externer im Collège Stanislas, wo er sich sehr hervortat; zwischen seinem vierzehnten und fünfzehnten Jahr schwärmte er lebhaft für einen Literaturprofessor, der ihn darüber belehrte, dass Mallarmé Rostand vorzuziehen sei. Mein Vater zuckte die Achseln, dann wurde er ärgerlich. Da Jacques
Cyrano
herabsetzte, ohne mir die Schwächen dieses Stücks erklären zu können, und mit genießerischer Miene unverständliche Verse rezitierte, ohne mich für ihre Schönheiten empfänglich zu machen, stimmte ich mit meinen Eltern überein, dass er ein Poseur sei. Aber obwohl ich seinen Geschmack ablehnte, bewunderte ich doch, dass er ihn mit einer solchen hochmütigen Sicherheit vertrat. Er kannte eine Menge Dichter und Schriftsteller, von denen ich keine Ahnung hatte; mit ihm kam in das Haus ein Raunen aus einer Welt, die mir bislang verschlossen geblieben war: Wie gerne hätte ich in sie eindringen mögen! Papa erklärte gern: «Simone hat das Gehirn eines Mannes, Simone ist ein Mann.» Dennoch wurde ich als junges Mädchen behandelt. Jacques und seine Kameraden lasen wirkliche Bücher. Sie waren auf dem Laufenden über die wahren Probleme; sie lebten unter freiem Himmel, während man mich noch ins Kinderzimmer sperrte. Aber ich verzweifelte nicht, sondern vertraute auf meine Zukunft. Durch Wissen oder Talente hatten sich Frauen bereits eine Stellung in der Welt der Männer verschafft. Ich aber war ungeduldig über die Verzögerung, die mir auferlegt war. Wenn ich zuweilen am Collège Stanislas vorbeikam, zog sich mein Herz zusammen; ich malte mir die Mysterien aus, die hinter diesen Wänden gefeiert wurden; ich sah eine Klasse von Knaben vor mir, während ich selbst mich in der Verbannung fühlte. Sie hatten als Lehrer Männer von glänzender Intelligenz, die ihnen das Wissen in seinem ungetrübten Glanz vermittelten. Meine alten Lehrerinnen teilten es mir nur in gereinigter, verwässerter, abgelagerter Form mit. Man nährte mich mit Ersatz und hielt mich im Käfig gefangen.
    Tatsächlich betrachtete ich die Damen des Cours Désir nicht mehr als erhabene Priesterinnen des Wissens, sondern als eher lächerliche Betschwestern. Mehr oder weniger an den Jesuitenorden angeschlossen, trugen sie das Haar auf der Seite gescheitelt, solange sie noch Novizinnen waren, und in der Mitte, sobald sie das Gelübde abgelegt hatten. Sie glaubten ihre Frömmigkeit durch die Extravaganz ihrer Kleidung bekunden zu müssen; sie trugen Taillen aus changierendem Taft mit Keulenärmeln und fischbeingesteiften Kragen: Mit ihren Röcken fegten sie den Fußboden auf. Sie waren reicher an Tugenden als an Diplomen. Man fand bemerkenswert, dass Mademoiselle Dubois, eine brünette, schnurrbartgezierte Person, ihr Staatsexamen in Englisch ablegte; Mademoiselle Billon, die ungefähr dreißig Jahre alt war, wurde in der Sorbonne gesehen, wie sie errötend und mit Handschuhen an den Händen die mündliche Prüfung des Abituriums ablegte. Mein Vater machte kein Hehl daraus, dass er die frommen Frauen etwas zurückgeblieben fand. Er ärgerte sich, dass man mich, wenn ich in einer Niederschrift einen Spaziergang oder ein Fest schilderte, zwang, meine Erzählung mit einem ‹Dank an Gott für den schönen Tag› zu beenden. Er schätzte Voltaire, Beaumarchais und konnte Victor Hugo auswendig; er fand unvernünftig, dass man die französische Literatur mit dem siebzehnten Jahrhundert enden ließ. Er ging sogar so weit, Mama vorzuschlagen, sie solle uns, meine Schwester und mich, ins Lyzeum schicken: Wir würden mehr und das sogar für geringeres Schulgeld lernen. Mit Eifer wies ich diese Zumutung von mir. Ich hätte alle Lebensfreude verloren, wenn ich mich von Zaza hätte trennen müssen. Meine Mutter ergriff meine Partei. Auch in diesem Punkte waren meine Gefühle geteilt. Ich wollte im

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