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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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Cours Désir bleiben, und trotzdem war ich nicht mehr gern dort. Ich fuhr fort, mit Eifer zu arbeiten, doch mein Verhalten änderte sich. Die Direktorin der Oberklassen, Mademoiselle Lejeune, eine große, dürre, lebhafte, sehr redegewandte Person, imponierte mir; aber mit Zaza und einigen Kameradinnen machte ich mich über die lächerlichen Seiten unserer übrigen Lehrer lustig. Den Aufseherinnen gelang es nicht mehr, uns in Ruhe zu halten. Die Zwischenstunden, die den Unterricht unterteilten, verbrachten wir in einem großen Raum, der als ‹Studiensaal› bezeichnet wurde. Wir schwatzten, wir lachten und reizten die ‹Pionne›, die damit beauftragt war, Ordnung zu halten, und die bei uns nur ‹die Vogelscheuche› hieß. Meine Schwester, die von allem genug hatte, war ganz ungeniert entschlossen, ungezogen zu sein. Zusammen mit einer Freundin, die sie sich selbst ausgesucht hatte, Anne-Marie Gendron, gründete sie das
Echo du Cours Désir
; Zaza lieh ihr Kopiermasse, und von Zeit zu Zeit arbeitete ich mit; wir verfassten blutige Pamphlete. Betragensnoten bekamen wir nicht mehr, aber die ‹Damen› hielten uns Strafpredigten und beklagten sich bei Mama. Sie sorgte sich entsprechend, aber da Papa mit uns lachte, ging sie darüber hinweg. Niemals kam mir auch nur von fern der Gedanke, diesen Ausfällen irgendeine moralische Bedeutung beizulegen; die Damen besaßen in meinen Augen nicht mehr die Schlüssel über die Bereiche des Guten und Bösen, seitdem ich entdeckt hatte, dass sie einfach dumm waren.
    Dummheit war das, was wir beide, meine Schwester und ich, früher den Kindern vorwarfen, die wir langweilig fanden; jetzt legten wir sie vielen erwachsenen Personen zur Last, besonders unseren Damen. Ihre salbungsvollen Reden, ihr feierliches Wiederkäuen von immer denselben Dingen, die großen Worte, die sie im Munde führten, ihre Heuchelei – das alles war in unseren Augen Dummheit; dumm war es, albernen Kleinigkeiten Wichtigkeit beizumessen, sich auf Hergebrachtes zu versteifen; Gemeinplätze, Vorurteile, Platituden im Munde zu führen, der Gipfel der Dummheit jedoch, zu glauben, dass wir die tugendhaften Lügen schluckten, die uns vorgesetzt wurden. Die Dummheit gab uns Anlass zum Lachen, sie war ein nie versiegender Quell der Erheiterung für uns. Unter ihrem Joch hätten wir nicht mehr das Recht gehabt, zu denken, uns zu mokieren, wirkliche Wünsche zu hegen und zu wahren Freuden zu gelangen. Wir mussten sie entweder bekämpfen oder darauf verzichten, überhaupt zu leben.
    Die Damen nahmen uns unsere Auflehnung sichtlich übel und machten auch kein Hehl daraus. Das Institut Adeline Désir legte großen Wert darauf, sich von Laieninstitutionen zu unterscheiden, in denen der Geist bereichert, die Seelen jedoch nicht gefördert wurden. Statt dass wir am Ende des Schuljahres Preise erhielten, die unseren Schulerfolgen entsprachen – was uns möglicherweise zu weltlichem Wettbewerb angereizt haben würde! –, wurden uns im Monat März unter dem Vorsitz des Bischofs Zertifikate und Medaillen ausgeteilt, durch die besonders unser Eifer, unsere Sittsamkeit und auch unsere mehr oder weniger lange Zugehörigkeit zum Hause diplomiert wurden. Die Veranstaltung ging in der ‹Salle Wagram› mit enormem Pomp vonstatten. Die höchste Auszeichnung war das ‹Ehrenzeugnis›, das alljährlich ganz wenigen Auserwählten in jeder Klasse, die sich auf allen Gebieten ausgezeichnet hatten, zuerkannt wurde. Die anderen erhielten nur Einzelanerkennungen. Als in diesem Jahre mein Name unter allgemeinem Schweigen feierlich aufgerufen worden war, hörte ich zu meinem Staunen Mademoiselle Lejeune verkünden: «Anerkennung in Mathematik, Geschichte und Geographie.» Unter meinen Klassenkameradinnen erhob sich ein teils erstauntes, teils befriedigtes Murmeln, denn ich hatte unter ihnen nicht nur Freundinnen. Mit Würde steckte ich diese Ohrfeige ein. Am Ende der Veranstaltung sprach unser Geschichtslehrer meine Mutter an: Der Einfluss Zazas auf mich sei unheilvoll; man dürfe uns während des Unterrichts nicht mehr nebeneinandersitzen lassen. Wie sehr ich mich auch zusammennahm, schossen mir doch die Tränen in die Augen – zum großen Vergnügen von Mademoiselle Gontran, die der Meinung war, ich weine über den Verlust meines ‹Ehrenzeugnisses›; ich glaubte, vor Zorn ersticken zu müssen, weil man mich von Zaza trennen wollte. Aber mein Gram saß noch tiefer. Hier, in diesem trübseligen Korridor, wurde mir dunkel bewusst,

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