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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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der mangelnde Komfort ihrer Wohnungen war für sie etwas Gewohntes; sie litten nicht darunter, wie wir darunter gelitten hätten. Ihre Beschwerden hatten nicht die Entschuldigung der wirklichen Not. «Im Übrigen», erklärte mein Vater achselzuckend, «stirbt man nicht an Hunger!» Nein, wenn die Arbeiter das Bürgertum hassten, so deswegen, weil sie sich der Überlegenheit dieser Klasse bewusst waren. Kommunismus und Sozialismus erklärten sich einzig durch den Neid. «Der Neid aber», pflegte mein Vater zu sagen, «ist eine hässliche Regung.»
    Ein einziges Mal bekam ich eine Ahnung davon, was Elend bedeutet. Louise bewohnte mit ihrem Mann, dem Dachdecker, ein Zimmer unter dem Dach in der Rue Madame; sie hatte ein Baby, und ich besuchte sie in Mamas Begleitung. Noch niemals hatte ich die Füße in einen sechsten Stock gesetzt. Der trübselige Gang, auf den sich ein Dutzend ganz gleicher Türen öffneten, wirkte bedrückend auf mich. Louises winziges Zimmer enthielt ein Eisenbett, eine Wiege und einen Tisch, auf dem ein Spirituskocher stand; sie schlief, kochte, aß und lebte mit ihrem Mann zusammen innerhalb dieser vier Wände; überall längs des Korridors hausten Menschen in gleicher erstickender Enge in ebensolchen Löchern; schon das enge Zusammenleben bei uns zu Hause und die Einförmigkeit der Tage des bürgerlichen Daseins bedrückten mich. Hier ahnte ich eine Welt, in der die Luft, die man atmete, einen Geruch nach Kohlenruß hatte und die von einer Schmutzschicht bedeckt war, durch die kein Lichtstrahl drang: Das Dasein hier kam mir vor wie eine langsame Agonie. Kurze Zeit darauf verlor Louise ihr Kind. Ich schluchzte stundenlang: Es war das erste Mal, dass ich das Unglück greifbar nahe vor mir sah. Ich stellte mir Louise in ihrem freudlosen Zimmer, ihres Kindes beraubt, ohne alles, vor: Eine solche Not hätte den Erdkreis erschüttern müssen. ‹Das ist doch zu ungerecht!›, sagte ich mir und dachte dabei nicht nur an das tote Kind, sondern auch an den Korridor im sechsten Stock. Schließlich aber trocknete ich meine Tränen, ohne die Gesellschaft ernstlich in Frage gestellt zu haben.
    Es war sehr schwer für mich, aus eigenem Vermögen zu denken, denn das System, das man mich lehrte, war gleichzeitig vollkommen einheitlich und dennoch zusammenhanglos. Wenn meine Eltern sich gestritten hätten, so hätte ich sie zueinander in Opposition setzen können. Eine wirklich einzigartige strenge Doktrin hätte meiner jungen Logik solide Angriffspunkte geboten. Da ich aber gleichzeitig mit der Moral von ‹Les Oiseaux› und auf der Basis des väterlichen Nationalismus erzogen wurde, geriet ich tief in Widersprüche hinein. Weder meine Mutter noch die Damen des Cours Désir zweifelten daran, dass der Papst vom Heiligen Geist erwählt worden sei; indessen wollte mein Vater nicht, dass er sich mit weltlichen Angelegenheiten befasste, und Mama dachte wie er; als Leo  XIII . Enzykliken über soziale Fragen erließ, verstieß er gegen seine Sendung. Pius  X ., der kein Wort in dieser Richtung geäußert hatte, war ein Heiliger. Ich musste also mit dem paradoxen Standpunkt fertigwerden, dass der Mann, den Gott zu seinem Stellvertreter auf Erden gewählt hatte, sich nicht mit irdischen Dingen abgeben dürfe. Frankreich war die älteste Tochter der Kirche; es schuldete seiner Mutter Gehorsam. Nichtsdestoweniger gingen die nationalen Werte den katholischen voran. Wenn in Saint-Sulpice für ‹die hungernden Kinder in Mitteldeutschland› gesammelt wurde, war meine Mutter empört und wollte ‹für die Boches› nichts geben. Unter allen Umständen hatten Patriotismus und Sorge um die bestehende Ordnung den Vorrang vor der christlichen Karitas. Lügen hieß Gott beleidigen; indessen behauptete Papa, dass Oberst Henry, indem er eine Fälschung beging, als Ehrenmann gehandelt habe. Töten war ein Verbrechen, aber die Todesstrafe durfte nicht abgeschafft werden. Man lehrte mich schon frühzeitig den Kompromiss der Kasuistik, Gott vollkommen von Cäsar zu trennen und jedem das Seine zu geben; immerhin blieb es bestürzend, dass Cäsar über Gott jeweils den Sieg davontrug. Wenn man die Welt gleichzeitig nach den Bibelversen und den Spalten des
Matin
betrachten muss, so trübt sich naturgemäß die Sicht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich mit geschlossenen Augen der Autorität anheimzugeben.
    Ich unterwarf mich ihr tatsächlich blind. Ein Konflikt war zwischen der ‹Action Française› und der ‹Démocratie

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