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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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grüßen», erklärte sie. Ich glaubte an die abstrakte Gleichheit der menschlichen Personen. In Meyrignac las ich ein geschichtliches Werk, in dem das Klassenwahlrecht befürwortet wurde. Ich warf den Kopf zurück: «Es ist schamlos, die Armen an der Abstimmung zu hindern!» Papa lächelte nur. Er erklärte mir, dass eine Nation eine Gesamtheit von Gütern ist; denjenigen, die diese Güter innehaben, kommt normalerweise auch die Sorge für ihre Verwaltung zu. Er schloss, indem er mir das Wort von Guizot: ‹Bereichert euch!›, zitierte. Seine Darlegung bestürzte mich. Papa war es nicht gelungen, sich zu bereichern: Hätte er daraufhin richtig gefunden, dass man ihm seine Rechte vorenthielt? Wenn ich Einspruch erhob, so geschah es im Namen des Wertsystems, das anzuerkennen er selbst mich gelehrt hatte. Er seinerseits schätzte es nicht, wenn man den Wert eines Menschen nach seinem Bankkonto bemaß, und machte sich gern über die ‹Neureichen› lustig. Die Elite erhielt ihren Charakter als solche seiner Meinung nach durch Intelligenz, Kultur, korrekte Orthographie, eine gute Erziehung und gesunde Ideen. Es fiel mir leicht, seinen Gedankengängen zu folgen, wenn er gegen das allgemeine Stimmrecht die Dummheit und Unwissenheit der Mehrzahl der Wähler ins Feld führte: Allein die ‹aufgeklärten› Leute hatten Recht auf eine Stimme im Rat. Ich beugte mich dieser Logik, die noch durch die empirische Wahrheit bekräftigt wurde: Die ‹Aufklärung› ist ein Vorrecht der Bourgeoisie. Manche Individuen der unteren Schichten bringen es zwar zu intellektuellen Leistungen, aber sie bewahren doch immer etwas Volksschülerhaftes und bleiben meist halbgebildet. Jeder Mann aus guter Familie hingegen hat ein gewisses Etwas, das ihn vom gemeinen Volk unterscheidet. Ich war nicht einmal so sehr schockiert, dass das Verdienst mit dem Zufall der Geburt verknüpft sein sollte, da ja schließlich der Wille Gottes über die Chancen eines jeden entschied. Auf alle Fälle schien mir die Tatsache vollkommen klar zu sein: Moralisch gesehen und also absolut stand die Klasse, der ich angehörte, turmhoch über der übrigen Gesellschaft. Wenn ich mit Mama Großpapas Pächter besuchte, so schien mir der Jauchegeruch, der Schmutz der Wohnräume, in dem die Hühner umherliefen, die Derbheit der Möbel ein Ausdruck ihrer plumpen Seelen zu sein; ich sah sie lehmbeschmiert und nach Schweiß und Erde riechend auf den Feldern arbeiten, niemals widmeten sie sich dem Anblick der Harmonie der Landschaft. Von der Schönheit des Sonnenuntergangs wussten sie schlechterdings nichts. Sie lasen keine Bücher, sie hatten keine Ideale. Papa erklärte, übrigens ohne jede Animosität, sie seien eben ‹Kloben›. Wenn er mir Gobineaus
Essai über die Ungleichheit der menschlichen Rassen
vorlas, machte ich mir bereitwillig die Idee zu eigen, dass das Hirn dieser Leute anders geartet sei als das unsere.
    Ich liebte so sehr das Land, dass das Leben der Bauern mir glücklich erschien. Hätte ich das der Arbeiter sehen können, hätte ich wohl kaum anders gekonnt, als mir Fragen zu stellen, doch ich wusste überhaupt nichts davon. Nach ihrer Verheiratung beschäftigte sich Tante Lili, weil sie nichts mit sich anzufangen wusste, viel mit Wohltätigkeit; sie nahm mich manchmal mit, wenn hierfür ausgewählten Kindern Spielzeug ins Haus gebracht werden sollte; diese Armen kamen mir nicht unglücklich vor. Eine Anzahl von guten Seelen betreute sie, und die Schwierigkeiten von Saint-Vincent-de-Paul widmeten sich ganz speziell ihrem Dienst. Es gab gewiss Unzufriedene unter ihnen: Das waren falsche Arme, die sich nur am Weihnachtsabend mit gebratenem Truthahn vollstopfen ließen, oder schlechte, die tranken. Einige Bücher – die von Dickens,
Sans famille
von Hector Malot – beschrieben ihre harte Existenz; ich fand das Schicksal der Bergleute furchtbar, die den ganzen Tag in düsteren Schächten eingeschlossen und vom Schlagwetter bedroht ihre Arbeit verrichteten. Man versicherte mir jedoch, die Zeiten hätten sich geändert. Die Arbeiter arbeiteten sehr viel weniger und verdienten sehr viel mehr; seit der Schaffung der Gewerkschaften seien die wahren Unterdrückten vielmehr die Arbeitgeber. Die Arbeiter, hierin weit besser daran als wir, brauchten nicht zu repräsentieren und könnten sich daher allsonntäglich ein Huhn im Topf leisten. Auf dem Markt kauften ihre Frauen die besten Stücke und hatten außerdem noch Geld für Seidenstrümpfe. Die Härte der Arbeit,

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