Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
Jahr hin hatte ich über das Unglück Ludwigs XVII . und den Heroismus der Chouans geweint. Frühzeitig jedoch verzichtete ich auf die Monarchie; ich fand es sinnlos, dass die Macht von der Erblichkeit abhängen und meistenteils Dummköpfen zufallen sollte. Es kam mir normaler vor, dass man die Herrschaft den kompetentesten Leuten anvertraute. Bei uns, das wusste ich, war das leider nicht der Fall. Ein Fluch verdammte uns dazu, als leitende Männer stets nur Lumpen zu haben; daher nahm denn auch Frankreich, obwohl es wesensmäßig allen anderen Nationen überlegen war, in der Welt nicht die Stelle ein, die ihm eigentlich zukam. Manche von Papas Freunden verfochten gegen ihn, man habe in England und nicht in Deutschland unseren Erbfeind zu sehen; aber ihre Unstimmigkeiten gingen nie sehr weit. Sie einigten sich darauf, dass im Grunde jegliches Ausland in seiner Existenz lächerlich und gefährlich sei. Als ein Opfer des Wilson’schen Idealismus, durch den brutalen Realismus der Boches und der Bolschewiken in seiner Zukunft bedroht, eilte Frankreich mangels einer Führung durch eine starke Hand seinem Ruin entgegen. Im Übrigen war die gesamte Zivilisation zum Schiffbruch verurteilt. Mein Vater, der auf dem besten Wege war, sein Kapital zu verzehren, gab die ganze Menschheit bereits dem Untergang preis; Mama stimmte in seine Klagen ein. Es gab die rote Gefahr und die gelbe Gefahr: Bald würde aus den fernsten Bereichen der Erde und den tiefsten Niederungen der Gesellschaft eine neue Barbarei hervorquellen und eine Revolution die Welt in das Chaos stürzen. Mein Vater prophezeite diese Katastrophen mit einer leidenschaftlichen Verve, die mich aufs tiefste bestürzte; diese Zukunft, die er in so grausigen Farben malte, war ja doch die meine; ich liebte das Leben und vermochte mich nicht damit abzufinden, dass es morgen nur noch ein einziges hoffnungsloses Lamentieren geben solle. Eines Tages ging ich so weit, anstatt einfach die Flut der alles zerstörenden Worte und Bilder über mein Haupt dahinbrausen zu lassen, dem etwas entgegenzuhalten: ‹Auf alle Fälle›, sagte ich mir, ‹siegen ja immer Menschen.› Wenn man meinen Vater hörte, so hätte man meinen können, dass missgebildete Ungeheuer auf dem Wege waren, die Menschheit in Stücke zu zerreißen; aber so war es ja doch nicht: In beiden Lagern standen Menschen einander gegenüber. Schließlich, dachte ich, wird die Mehrheit eben den Sieg davontragen; die Unzufriedenen werden in der Minderheit sein. Wenn das Glück den Besitzer wechselt, ist das an sich noch keine Katastrophe. Das Andere hatte plötzlich aufgehört, mir als das unbedingt Schlechte zu erscheinen: Ich sah nicht ein, weshalb man von vornherein den Interessen der anderen diejenigen vorziehen sollte, die angeblich meine waren. Ich atmete wieder auf. Die Erde war nicht mehr in Gefahr. Die Angst hatte mir zu dieser Erleuchtung verholfen; um der Verzweiflung zu begegnen, hatte ich einen Ausweg entdeckt, als ich nach ihm mit aller Leidenschaft suchte. Jedoch mein Sicherheitsbedürfnis und meine bequemen Illusionen machten mich unempfänglich für soziale Probleme. Ich war noch hundert Meilen davon entfernt, die bestehende Ordnung etwa in Frage zu stellen.
Es wäre noch zu wenig gesagt, wenn ich nur behauptete, dass das Eigentum mir als ein geheiligtes Recht erschien. Wie früher zwischen dem Wort und der Sache, die es bezeichnete, setzte ich auch zwischen dem Besitzer und seinen Gütern eine konsubstanzielle Verbindung voraus. Zu sagen:
Mein
Geld,
meine
Schwester,
meine
Nase bedeutete in allen drei Fällen, dass man ein Band bestätigte, das kein Wille je zerstören konnte, weil es jenseits von jeder Übereinkunft bestand. Als mir erzählt wurde, der Staat habe, um die Eisenbahnlinie zu erbauen, die an Uzerche vorbeiführte, eine Anzahl von Bauern und Grundbesitzern enteignet, war ich kaum weniger empört, als wenn es sich um Blutvergießen gehandelt hätte. Meyrignac gehörte meinem Großvater so unbedingt wie sein eigenes Leben.
Hingegen gestand ich nicht zu, dass eine einfache nackte Tatsache wie der Reichtum irgendein Recht begründen oder ein Verdienst übermitteln könne. Das Evangelium predigt die Armut. Ich hatte viel mehr Hochachtung vor Louise als vor einer großen Zahl wohlhabender Damen. Ich war empört, dass meine Cousine Madeleine den Bäckern nicht guten Tag sagen wollte, die mit ihren Wagen nach La Grillère kamen, um das Brot abzuliefern. «Es ist an ihnen, mich zuerst zu
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