Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
ermunterte mich zur Geduld in Erwartung eines Tages, an dem ich mich, im Herzen der Ewigkeit heimisch geworden, auf wunderbare Weise von der Erde losgelöst fühlen würde. Inzwischen lebte ich auf ihr ohne Zwang, denn meine Bemühungen bewegten sich auf geistigen Höhen, deren erhabene Heiterkeit durch irgendwelche Trivialitäten nicht gestört werden konnte.
Mein System erfuhr jedoch eine Widerlegung. Seitdem ich sieben Jahre alt war, ging ich zweimal im Monat zu Abbé Martin zur Beichte; ich unterhielt ihn über meine Seelenzustände; ich beschuldigte mich, ohne wahren Eifer kommuniziert, Lippengebete gesprochen, zu selten an Gott gedacht zu haben; auf diese ätherischen Formen des Vergehens reagierte er mit einer Predigt in gehobenem Stil. Eines Tages aber begann er, anstatt sich an dieses Ritual zu halten, einen vertraulicheren Ton anzuschlagen. «Es ist mir zu Ohren gekommen, dass meine kleine Simone sich verändert hat … dass sie ungehorsam, ungebärdig ist und Widerworte im Munde führt, wenn sie gescholten wird … Von nun an wollen wir einmal auf diese Dinge achten.» Meine Wangen wurden feuerrot, schaudernd betrachtete ich den Betrüger, den ich alle diese Jahre hindurch für den Vertreter Gottes auf Erden gehalten hatte: Plötzlich hatte er seine Soutane gelüftet und darunter das Gewand einer alten Betschwester aufgedeckt; sein Priestergewand war nur eine Verkleidung gewesen; es umhüllte eine alte Gevatterin, die am Geschwätz ihre Freude hatte. Mit brennenden Wangen verließ ich den Beichtstuhl, entschlossen, nie mehr einen Fuß dorthin zu setzen: Fortan würde es für mich ebenso grauenhaft sein, vor dem Abbé Martin wie etwa vor der ‹Vogelscheuche› niederzuknien. Wenn ich zufällig in den Korridoren des Instituts sein schwarzes Gewand auftauchen sah, entfloh ich mit klopfendem Herzen. Sein Anblick flößte mir physisches Unbehagen ein, ganz als ob die Heuchelei des Abbé mich zur Mitwisserin eines obszönen Sachverhaltes gemacht hätte.
Ich vermute, er wird sehr erstaunt gewesen sein, aber sicher hat er das Beichtgeheimnis respektiert; es ist mir nicht zu Ohren gekommen, dass er jemanden von meinem Abfall unterrichtet hätte; er machte auch keinen Versuch, sich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Von einem Tag auf den anderen war der Bruch vollzogen.
Gott ging aus diesem Erlebnis ohne Schaden hervor, freilich nur mit knapper Not. Wenn ich es so eilig hatte, mich von meinem geistlichen Berater loszusagen, so vor allem deswegen, weil mir daran lag, den furchtbaren Verdacht zu bannen, der einen Augenblick lang meinen Himmel verdüsterte. War am Ende Gott selbst kleinlich und zänkisch wie eine alte Vettel, war er am Ende dumm? Während der Abbé mit mir sprach, war es gewesen, als ob eine Hand ohne Sinn und Verstand auf meinen Nacken herniedergefahren wäre, meinen Kopf hinuntergedrückt und mein Gesicht auf die Erde gestoßen hätte; bis zu meinem Tode, so schien mir, würde sie mich nun zwingen, am Boden dahinzukriechen, geblendet durch Dunkel und Erdenstaub, für immer musste ich der Wahrheit, der Freiheit, jeder Freude entsagen und in Schmach und Elend leben.
Ich riss mich los von diesem bleiernen Druck und konzentrierte mein ganzes Grauen einzig auf den Verräter, der sich die Rolle des göttlichen Mittlers nur angemaßt hatte. Als ich die Kapelle verließ, war Gott in seine allwissende Majestät wieder eingesetzt, ich hatte mir den Himmel noch einmal zurechtgeflickt. Unter der Wölbung von Saint-Sulpice irrte ich auf der Suche nach einem neuen Beichtvater umher, der nicht durch unreine menschliche Worte die Botschaft von oben entstellte. Ich versuchte es mit einem Rothaarigen, dann mit einem Dunklen, dem ich Interesse für meine Seele abgewann. Er wies mich auf Themen zur Betrachtung hin und lieh mir einen
Abriss der asketischen und mystischen Theologie
. Aber in der großen, kahlen Kirche fühlte ich mich nicht wohlig erwärmt wie vordem in der Kapelle des Cours Désir. Mein neuer Beichtvater war mir auch nicht von Kindheit an zugeteilt worden, ich hatte ihn mir selbst gewählt, und zwar eher aufs Geratewohl: Er war kein wirklicher ‹Vater›, und ich vermochte auch nicht, mich ihm ganz anheimzugeben. Ich hatte einen Priester verurteilt und mit Verachtung bedacht, kein Priester würde mir künftighin mehr als der oberste Richter erscheinen. Niemand auf Erden verkörperte wirklich Gott: So stand ich ganz allein vor seinem Angesicht. In meinem tiefsten Herzen hielt die Unruhe an: Wer
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