Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
war er? Was wollte er von mir? In welchem Lager stand er?
Mein Vater glaubte nicht; die größten Schriftsteller, die besten Denker teilten seinen Skeptizismus; alles in allem gingen vornehmlich Frauen zur Kirche; es kam mir allmählich paradox vor, dass die Wahrheit ihr privilegierter Besitz sein sollte, während doch die Männer ihnen andererseits unumstritten übergeordnet waren. Gleichzeitig dachte ich, dass es keine größere Katastrophe geben könnte, als den Glauben zu verlieren, und ich versuchte oft, mich gegen diese Gefahr zu sichern. Ich hatte mir meine religiöse Unterweisung ernstlich angelegen sein lassen und auch an Kursen über Apologetik teilgenommen; jedem Einwand gegen die Offenbarungswahrheiten wusste ich mit einem scharfsinnigen Argument zu begegnen, aber ich kannte keines, das sie wirklich bewies. Die Allegorie von der Uhr und dem Uhrmacher überzeugte mich nicht. Ich befand mich noch in einer zu radikalen Unkenntnis des Leidens, um es als Argument gegen die Vorsehung zu verwenden, aber die Harmonie der Welt war mir nicht evident. Christus und viele Heilige hatten auf Erden das Vorhandensein des Übernatürlichen dargetan, aber schließlich, sagte ich mir, waren ja die Bibel, die Evangelien, die Wunder, die Visionen nur durch die Autorität der Kirche bezeugt. «Das größte Wunder von Lourdes ist Lourdes selbst», pflegte mein Vater zu sagen. Die religiösen Tatsachen waren überzeugend einzig für die bereits Überzeugten. Noch zweifelte ich freilich nicht, dass die hl. Jungfrau im weißen und blauen Gewande dem Mädchen Bernadette erschienen sei: Vielleicht aber würde ich schon morgen daran zweifeln. Die Gläubigen erkannten diesen Circulus vitiosus an, da sie ja selbst zugaben, dass der Glaube die Gnade zur Voraussetzung habe. Ich stellte mir nicht vor, dass Gott mir antun könnte, mir diese zu versagen, aber ich hätte mir doch gewünscht, mich an etwas Greifbareres halten zu können; ich fand nur einen einzigen Beweis: die Stimmen der hl. Johanna. Jeanne d’Arc gehörte der Geschichte an; sie wurde von meinem Vater sowohl wie von meiner Mutter verehrt. Wie sollte man, da sie weder eine Lügnerin noch Schwärmerin gewesen war, ihr Zeugnis von sich weisen? Ihr ganzes außerordentliches Erleben bestätigte es: Die Stimmen hatten zu ihr gesprochen; das war wissenschaftlich erwiesen, und ich verstand nicht recht, wie mein Vater darum herumkommen wollte.
Eines Abends in Meyrignac stützte ich mich wie so oft schon mit den Ellbogen auf mein Fensterbrett; Stallgeruch stieg zum dunstigen Himmel auf; mein Gebet erhob sich kraftlos und sank dann wieder in sich zusammen. Ich hatte eine Stunde damit zugebracht, die verbotenen Äpfel zu verspeisen und in einem ebenfalls verbotenen Balzac-Band von dem seltsamen Liebesidyll eines Mannes mit einer Pantherkatze zu lesen; vor dem Einschlafen gedachte ich, mir selbst noch sonderbare Geschichten zu erzählen, die mich in sonderbare Zustände versetzen würden. ‹Das ist Sünde›, sagte ich mir. Es war mir unmöglich, mich länger selbst zu betrügen: Systematischer beständiger Ungehorsam, Lüge, unreine Träumereien waren kein Verhalten, das man als harmlos bezeichnen konnte. Ich versenkte meine Hände in die Kühle der Kirschlorbeerbüsche und hörte dem Glucksen des Wassers zu. Mit einem Male war ich mir klar darüber, dass nichts mich zum Verzicht auf die irdischen Freuden vermögen würde. ‹Ich glaube nicht mehr an Gott›, sagte ich mir ohne allzu großes Erstaunen. Es war vollkommen klar: Wenn ich an ihn geglaubt hätte, wäre ich nicht freudigen Herzens bereit gewesen, ihn zu beleidigen. Ich hatte immer gedacht, dass im Vergleich zur Ewigkeit diese Welt nicht zähle; sie zählte jedoch, denn ich liebte sie ja; stattdessen wog auf einmal Gott nicht mehr schwer genug: Offenbar deckte sein Name nur eine Fata Morgana. Seit langem schon hatte meine Vorstellung von ihm sich derart gereinigt und sublimiert, dass er sein Antlitz, jede konkrete Bindung zur Erde und schließlich folgerichtig sein Wesen verloren hatte. Seine Vollkommenheit gerade schloss seine Wirklichkeit aus. Deswegen war ich so wenig überrascht, als ich seine Abwesenheit in meinem Herzen und im Himmel verspürte. Ich leugnete ihn nicht, um mich von jemandem zu befreien, der mir Hemmungen auferlegte: Ich stellte im Gegenteil fest, dass er in mein Leben nicht mehr eingriff, und ich schloss daraus, dass er für mich zu existieren aufgehört habe.
Unausweichlich musste es bei mir zu
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