Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
Vom Netzwerk:
Nouvelle› ausgebrochen. Da die ‹Camelots du roi› sich den Vorteil der Zahl gesichert hatten, griffen sie die Parteigänger Marc Sangniers an und gossen ihnen Flaschen voll Rizinusöl in den Hals. Papa und seine Freunde amüsierten sich sehr darüber. Ich hatte in früher Kindheit gelernt, die Leiden der Bösen zu verlachen; ohne mir selbst ein Urteil zu bilden, behauptete auch ich im Vertrauen auf Papa, es sei dies ein sehr komischer Spaß. Als ich mit Zaza die Rue Saint-Benoît entlangging, spielte ich vergnügt auf die Situation an. Zazas Züge verhärteten sich. «Das ist infam!», sagte sie in empörtem Ton. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. In tiefer Zerknirschung wurde mir klar, dass ich blindlings die Haltung Papas angenommen hatte, ohne mir selbst im Geringsten Gedanken zu machen. Auch Zaza drückte die Meinung ihrer Familie aus. Ihr Vater hatte dem ‹Sillon› angehört, bevor die Kirche diesen in den Bann getan hatte. Er war auch weiterhin der Meinung, dass die Katholiken soziale Verpflichtungen hätten, und verwarf die Theorie von Maurras; diese Haltung war so folgerichtig, dass ein kleines Mädchen von vierzehn Jahren sich ihr aus voller Überzeugung anschließen konnte; Zazas Empörung, ihr Grauen vor Gewalt waren aufrichtig empfunden. Ich aber hatte wie ein Papagei nachgeplappert und fand in mir keinerlei entsprechende Regungen vor. Ich litt unter Zazas Verachtung, aber was mich noch tiefer beunruhigte, war der Meinungszwiespalt, der sich zwischen ihr und meinem Vater auftat: Ich wollte keinem von beiden unrecht geben. Ich sprach darüber mit Papa; er zuckte die Achseln und sagte, Zaza sei noch ein Kind; diese Antwort befriedigte mich nicht. Zum ersten Male war ich in die Enge getrieben und musste Partei ergreifen: Aber ich verstand nichts davon und fasste keinen Entschluss. Die einzige Folgerung, die ich aus diesem Zwischenfall zog, bestand in der Einsicht, dass man auch eine andere Meinung haben könne als mein Vater. Selbst die Wahrheit stand nicht mehr unbedingt fest.
    Die Lektüre der
Histoire des deux Restaurations
von Vaulabelle machte mich zum Liberalismus geneigt; zwei Sommer hindurch hatte ich die sieben Bände aus dem Bücherschrank meines Großvaters gelesen. Ich weinte über Napoleons Niederlage; ich hasste Monarchie, Konservatismus und Obskurantismus. Ich wünschte mir, dass die Vernunft über die Menschen herrschte, und begeisterte mich für die Demokratie, die allein, so glaubte ich, gleiche Rechte und Freiheit garantierte. Darüber hinaus ging ich nicht.
    Ich interessierte mich weit weniger für fernliegende soziale Fragen als für die Probleme, die mich selbst betrafen: die Moral, das Leben meines Inneren, meine Beziehungen zu Gott. Über diese Dinge begann ich jetzt nachzudenken.
     
    Die Natur sprach zu mir von Gott. Aber in ganz entscheidender Weise schien er der Welt völlig fremd zu sein, in der die Menschen ihr Treiben entfalteten. Ebenso wie der Papst in seinem Vatikan sich nicht um das zu bekümmern hatte, was in der Welt vorgeht, interessierte sich Gott in der Unendlichkeit des Himmels wohl kaum für die Einzelheiten des irdischen Geschehens. Seit langem schon hatte ich sein Gesetz von der weltlichen Autorität zu unterscheiden gelernt. Meine Ungezogenheiten im Unterricht, meine heimliche Lektüre hatten mit ihm nichts zu tun. Von Jahr zu Jahr stärkte und reinigte sich meine Frömmigkeit, und ich verschmähte die Fadheiten der Moral zugunsten der Mystik. Ich betete, meditierte und versuchte meinem Herzen die göttliche Gegenwart spürbar zu machen. Als ich etwa zwölf Jahre alt war, erfand ich Bußübungen für mich: Ins WC eingeschlossen – es war meine einzige Zuflucht –, rieb ich mich bis aufs Blut mit einem Bimsstein und geißelte mich mit der goldenen Kette, die ich am Hals trug. Mein Eifer trug wenig Früchte. In meinen Erbauungsbüchern war viel von Fortschritten und von Aufstieg die Rede; die Seelen klommen auf steilen Pfaden empor, sie überwanden Hindernisse; zuweilen durchmaßen sie öde Wüsten, dann aber letzte sie himmlischer Tau; es war eine an Abenteuern reiche Wanderung; tatsächlich aber hatte ich, obwohl ich mich in geistiger Hinsicht täglich zu höherem Wissen erhob, niemals den Eindruck, mich Gott stärker genähert zu haben. Ich wünschte mir Erscheinungen, Ekstasen, ich hoffte, dass sich in mir oder außerhalb von mir irgendetwas zutragen möchte, aber nichts geschah, und meine Exerzitien kamen mir wie Komödienspiel vor. Ich

Weitere Kostenlose Bücher