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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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anderen – meiner Mutter, Zazas, meiner Schulgefährtinnen, ja, sogar der ‹Damen› – und auch mit den Augen des Mädchens sah, das ich vordem gewesen war. Im vorhergehenden Jahre gab es in der Obersekunda eine große Schülerin, von der man sich zuraunte, sie ‹glaube nicht›; sie arbeitete gut, machte keine ungehörigen Bemerkungen und wurde auch nicht aus der Anstalt verwiesen; aber ich verspürte doch eine Art von Grauen, wenn ich auf den Korridoren ihr Gesicht vor mir sah, das durch ein Glasauge noch etwas besonders Beunruhigendes bekam. Jetzt war es an mir, mich als räudiges Schaf zu fühlen. Was meinen Fall noch schlimmer machte, war, dass ich heuchelte: Ich ging zur Messe und zur Kommunion. Ich schluckte die Hostie mit Gleichgültigkeit im Herzen, obwohl ich wusste, dass ich nach Meinung der Gläubigen ein Sakrileg beging. Wenn ich mein Verbrechen verbarg, so vermehrte ich es dadurch noch, aber wie hätte ich es eingestehen sollen? Man hätte mit Fingern auf mich gewiesen, mich aus dem Unterricht gejagt, ich hätte Zazas Freundschaft verloren; und was für einen Aufruhr hätte ich in Mamas Herzen angerichtet! Ich war zur Lüge verurteilt. Es war keine harmlose Lüge: Sie befleckte mein ganzes Dasein, und in manchem Augenblick – besonders unter den Augen Zazas, deren Geradheit ich bewunderte – lag sie wie ein Makel auf mir. Von neuem unterlag ich einem Zauber, den nichts zu bannen vermochte: Ich hatte nichts Böses getan und fühlte mich dennoch schuldig. Wenn die Erwachsenen befunden hätten, ich sei eine Heuchlerin, ein gottloses Geschöpf, ein hinterhältiges, unnatürliches Kind, so wäre mir ihr Urteil zugleich grauenhaft ungerecht und völlig begründet erschienen. Man hätte meinen können, ich führte ein Doppelleben; zwischen dem, was ich für mich selbst, und dem, was ich für die anderen war, bestand keine Beziehung.
    Augenblicksweise litt ich so sehr darunter, gezeichnet, verflucht, ausgewiesen zu sein, dass ich mir wünschte, ich könnte in den früheren Irrtum zurückfallen. Ich musste Abbé Roullin den
Abriss der asketischen und mystischen Theologie
wiedergeben, den er mir geliehen hatte. Ich kehrte zur Kirche Saint-Sulpice zurück und kniete im Beichtstuhl nieder; ich sagte, ich sei monatelang den Sakramenten ferngeblieben, weil ich nicht mehr glaubte. Als der Geistliche in meinen Händen den
Abriss
und damit auch erkannte, aus welchen Höhen ich herabgestürzt war, staunte er und fragte mich mit wohlerwogener krasser Offenheit: «Welche schwere Sünde haben Sie begangen?» Ich protestierte. Er glaubte mir nicht und riet mir, viel zu beten. Ich ergab mich darein, als Verbannte zu leben.
    Ich las zu dieser Zeit einen Roman, der mir wie ein Spiegelbild mein eigenes Exil wiederzugeben schien, es war
The Mill on the Floss
von George Eliot, ein Buch, das einen noch tieferen Eindruck auf mich machte als
Little Women
. Ich las es auf Englisch in Meyrignac, auf dem Moose im Kastanienwäldchen liegend. Dunkel, naturliebend, der Lektüre, dem Leben zugeneigt, zu spontan, um die Konventionen zu beachten, die ihre Umgebung respektierte, aber sehr empfindlich gegen den Tadel eines Bruders, den sie anbetete, war Maggie Tulliver wie ich zwischen den anderen und sich selbst aufgespalten: Ich erkannte mich in ihr. Ihre Freundschaft mit dem jungen Buckligen, der ihr Bücher lieh, rührte mich ebenso sehr wie die zwischen Jo und Laurie: Ich wünschte mir, dass sie ihn heiratete. Aber auch diesmal fand die Liebe mit der Kindheit ein Ende. Maggie verliebte sich in Stephen, den Verlobten einer Cousine, den sie erobert hatte, ohne es zu wollen. Obwohl sie durch ihn kompromittiert war, lehnte sie aus Loyalität gegen Lucy eine Heirat mit ihm ab; das Dorf hätte die durch eine Hochzeit sanktionierte Untreue verziehen, es verzieh Maggie aber nicht, dass sie die äußere Wohlanständigkeit der Stimme ihres Gewissens opferte. Ihr Bruder sogar sagte sich von ihr los. Ich kannte damals nur eine Liebe, die zugleich Freundschaft war; in meinen Augen schuf die Tatsache, dass man Bücher austauschte und über sie sprach, zwischen einem Burschen und einem Mädchen Bande für alle Ewigkeit; ich verstand nicht recht, was Maggie an Stephen so anziehend finden konnte. Dennoch hätte sie, da sie ihn liebte, auf ihn nicht verzichten dürfen. In dem Augenblick erst, als sie sich, verkannt, verleumdet, von allen verlassen in die alte Mühle zurückzog, entbrannte mein Herz in Zärtlichkeit für sie. Ihren Tod beweinte

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