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Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Memoiren einer Tochter aus gutem Hause

Titel: Memoiren einer Tochter aus gutem Hause Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simone de Beauvoir
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dieser Bereinigung kommen. Ich war zu extremistisch, um unter Gottes Augen zu leben und dabei zur Welt in einem Atem ja und nein zu sagen. Andererseits hätte es mir widerstrebt, in unaufrichtiger Weise vom Profanen zum Heiligen überzuschwenken und Gott zu bekennen, indem ich zugleich dennoch ohne ihn lebte. Ich konnte mir keinen Kompromiss mit dem Himmel vorstellen. Wenn man Gott auch nur das Geringste vorenthielt, war es immer noch zu viel, wofern er existierte; ihm aber auch nur das Geringste zuzugestehen war zu viel, wenn es ihn nicht gab. Mit dem Gewissen kleinlich zu rechten, mit dem Vergnügen spitzfindig zu argumentieren, solches Markten widerstrebte mir. Deswegen wollte ich keine List anwenden. Sobald mir die Erleuchtung gekommen war, zog ich einen reinlichen Strich.
    Die Skepsis meines Vaters hatte mir den Weg schon eröffnet; ich ließ mich nicht einsam und verlassen auf dieses gefährliche Abenteuer ein, vielmehr verspürte ich eine gewisse Erleichterung, mich nunmehr, von den Fesseln meiner Kindheit und meines Geschlechtes befreit, in Übereinstimmung mit den freien Geistern zu finden, die ich bewunderte. Die Stimmen der heiligen Johanna verwirrten mich dabei nicht mehr sehr; andere Rätsel beschäftigten mich, doch hatte die Religion mich an Mysterien gewöhnt, und es war mir leichter, eine Welt ohne Schöpfer zu denken als einen Schöpfer, der mit allen Widersprüchen der Welt beladen war. In meinem Unglauben wurde ich niemals schwankend.
    Indessen verwandelte sich das Antlitz der Welt. Mehr als einmal verspürte ich in den folgenden Tagen, wenn ich unter der Blutbuche oder den Silberpappeln saß, mit Angst die Leere des Himmels über mir. Vordem befand ich mich im Mittelpunkt eines lebenden Bildes, dessen Farbe und Lichter Gott selbst ausgewählt hatte; alle Dinge stimmten in sanften Tönen einen Lobgesang zu seinem Ruhme an. Plötzlich war alles still. Welch ein Schweigen! Die Erde rollte durch einen Raum, den kein Blick durchdrang, ich aber war allein, verloren auf ihrer unendlichen Fläche, inmitten des blinden Äthers. Allein: ohne Zeugen, ohne verstehende Gegenwart, ohne seelische Zuflucht. Der lebendige Hauch in meiner Brust, das Blut in meinen Adern, die ganze Unrast in meinem Kopf waren für niemanden da. Ich stand auf und lief in den Park, wo ich mich zwischen Mama und Tante Marguerite unter den Catalpabaum setzte; so stark war mein Bedürfnis, menschliche Stimmen zu hören.
     
    Noch eine andere Entdeckung machte ich. Eines Nachmittags in Paris wurde mir mit einem Male klar, dass ich zum Tode verurteilt sei. Niemand außer mir befand sich in der Wohnung, ich gab mich meiner Verzweiflung ohne alle Hemmung hin. Ich schrie, ich krallte die Finger in den roten Moquette. Als ich verstört wieder aufstand, fragte ich mich: ‹Wie machen es die anderen? Und wie werde ich es machen?› Es schien mir unmöglich, mein ganzes Leben lang mit einem von Grauen verkrampften Herzen zu leben. Wenn der Tag der Fälligkeit naht, sagte ich mir, und man ist schon dreißig oder vierzig Jahre alt und denkt: ‹Morgen ist es so weit› – wie erträgt man das nur? Mehr als den Tod selbst noch fürchtete ich das Entsetzen, das nun sehr bald und für immer mein Los sein würde.
    Glücklicherweise fanden im Laufe des Schuljahres solche metaphysischen Eruptionen nur ziemlich selten statt. Es fehlten mir dafür die Muße und die Einsamkeit. Die Praxis meines Lebens änderte sich durch meine Bekehrung nicht. Ich hatte zu glauben aufgehört, als ich entdeckte, dass Gott auf mein Verhalten keinerlei Einfluss nahm; infolgedessen wandelte dieses sich nicht, als ich ihm entsagte. Ich hatte mir eingebildet, das Sittengesetz entnehme seine Grundlage aus ihm, aber es war so tief in mich eingeschrieben, dass es auch nach seinem Fortfall vollkommen erhalten blieb. Wenn Mama jetzt zwar keineswegs mehr ihre Autorität einer übernatürlichen Macht verdankte, so gab doch mein Respekt vor ihr ihren Weisungen den Charakter des Unantastbaren. Ich fügte mich auch weiterhin. Pflichtgefühl, Anerkennung des Verdienstes, sexuelle Tabus, alles blieb erhalten.
    Ich kam nicht ernstlich auf den Gedanken, mich meinem Vater zu eröffnen: Ich hätte ihn in fürchterliche Verlegenheit gestürzt. Also trug ich mein Geheimnis allein mit mir herum und fand es allerdings schwer. Zum ersten Male in meinem Leben hatte ich den Eindruck, das Gute falle nicht mit der Wahrheit zusammen. Ich konnte nicht hindern, dass ich mich mit den Augen der

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