Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
wie Monsieur Mabille; eine dicke Kette, die um ihre Hände geschlungen war, versinnbildlichte ihre Sklaverei. Ein schöner, stürmischer junger Mann entführte sie vom heimischen Herd. Im Leinenkleid, mit nackten Armen und im Winde flatterndem Haar tollte nun die junge Frau Hand in Hand mit ihrem Geliebten durch die Wiesen; sie warfen sich Hände voll Heu ins Gesicht – ich glaubte den Duft zu verspüren –, und ihre Augen lachten: Niemals hatte ich solche Delirien der Heiterkeit geahnt, gesehen oder mir vorgestellt. Ich weiß nicht mehr, aufgrund welcher Peripetien die Frau als ein schwer versehrtes Geschöpf wieder in die Geborgenheit der heimischen Hürde zurückfand. Ihr Gatte nahm die Entlaufene voller Güte wieder auf. Reuevoll erlebte sie jetzt die Vision, dass die schwere Eisenkette sich in eine Rosengirlande verwandelte. Dieses Wunder allerdings stieß auf Skepsis bei mir. Doch blieb ich auch weiter geblendet von der Offenbarung unbekannter Wonnen, die ich noch nicht zu benennen wusste, die eines Tages aber verschwenderisch auch mir zuteilwerden würden: Es waren Freiheit und Liebeslust. Das düstere Fronen der Erwachsenen flößte mir Grauen ein; nichts trug sich bei ihnen zu, was nicht bereits im Voraus zu erwarten gewesen war; seufzend ließen sie eine Existenz über sich ergehen, in der alles entschieden war, ohne dass jemand etwas entschied. Die Heldin bei Bataille hatte etwas gewagt, und die Sonne hatte ihr gestrahlt. Lange Zeit hindurch ließ mich, wenn ich meinen Blick den ungewissen Jahren der Reifezeit zuwendete, das Bild eines durch die Wiesen tollenden Paares vor Hoffnung innerlich erbeben.
In dem Sommer, in dem ich fünfzehn Jahre alt war, ging ich zu Ende des Schuljahrs zwei- oder dreimal mit Zaza und anderen Kameradinnen in den Bois zum Bootfahren. In einer Allee sah ich ein junges Paar vor mir hergehen; der junge Mann stützte leicht seine Hand auf die Schulter der Frau. In plötzlicher Ergriffenheit sagte ich mir, es müsse ein süßes Gefühl sein, durch das Leben zu gehen und dabei auf der Schulter eine Hand zu fühlen, die so vertraut war, dass man kaum ihr Gewicht verspürte, und doch so gegenwärtig, dass durch sie die Einsamkeit für alle Zeiten gebannt war. ‹Zwei miteinander vereinte Wesen› – diese Worte riefen viele Träumereien in mir wach. Weder meine Schwester, die mir zu nah, noch Zaza, die mir zu fern stand, hatten mir eine Ahnung von ihrem wahren Sinn geschenkt. Oft kam es in der Folge vor, dass ich, wenn ich lesend in meines Vaters Arbeitszimmer saß, den Kopf hob und mich fragte: ‹Werde ich einem Mann begegnen, der für mich geschaffen ist?› Meine Lektüre hatte mir für ihn kein Modell geliefert. Innerlich sehr nahe hatte ich mich Hellé, der Heldin Marcelle Tinayres, gefühlt. «Mädchen wie du, Hellé», hatte ihr Vater gesagt, «sind dafür gemacht, Gefährtinnen von Helden zu werden.» Diese Prophezeiung hatte mich beeindruckt, doch fand ich den rothaarigen, bärtigen Apostel eher abstoßend, den Hellé schließlich heiratete. Ich stattete meinen künftigen Gatten mit keinen bestimmten Zügen aus. Umso deutlicher war die Vorstellung, die ich mir von unseren Beziehungen zueinander machte: Ich würde leidenschaftliche Bewunderung für ihn hegen. Auf diesem Gebiet wie auf allen anderen dürstete ich nach Notwendigkeit. Der Erwählte müsste wie einst Zaza einfach zwingend da, seine Überlegenheit vollkommen evident für mich sein, sonst würde ich mich fragen: ‹Warum er und kein anderer?› Dieser Zweifel war unvereinbar mit wahrer Liebe. Ich würde an dem Tage lieben, an dem ein Mann durch seine Klugheit, seine Kultur, seine Autorität mir unbegrenzt imponierte.
In diesem Punkte war Zaza nicht derselben Meinung wie ich: Auch für sie schloss Liebe Achtung und Verstehen ein, aber sie meinte, wenn ein Mann über Gefühl und Einbildungskraft verfüge, wenn er Künstler oder Dichter sei, so mache es ihr wenig aus, wenn er nicht sehr gebildet oder sogar nur von mittelmäßiger Intelligenz sein würde. «Dann kann man einander nicht alles sagen!», wendete ich dagegen ein. Ein Maler, ein Musiker hätte mich nicht völlig verstanden und wäre auch für mich zum Teil undurchsichtig geblieben. Ich aber wollte, dass zwischen Mann und Frau alles gemeinsam sei; jeder sollte dem anderen gegenüber die Rolle des unablässigen Zeugen spielen, die ich einstmals Gott zugeschrieben hatte. Das aber schloss aus, dass man jemanden liebte, der
verschieden
von einem war. Ich
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