Memoiren einer Tochter aus gutem Hause
ich ganze Stunden hindurch. Die andern verurteilten sie, weil sie ihnen an Wert überlegen war. Ich war ihr ähnlich und sah daraufhin in meiner Isolierung nicht mehr ein Zeichen der Schmach, sondern der Erwähltheit. Ich hatte nicht vor, an ihr zu sterben. Durch die Person der Heldin hindurch identifizierte ich mich mit der Autorin: Eines Tages würde eine junge Person, ein anderes Ich gewissermaßen, Tränen über einen Roman vergießen, in dem ich meine eigene Geschichte dargestellt haben würde.
Seit langem hatte ich beschlossen, mein Dasein geistiger Arbeit zu weihen. Ich war empört, als Zaza mir in herausforderndem Ton erklärte: «Neun Kinder in die Welt setzen, wie Mama es getan hat, ist ebenso viel wert wie Bücherschreiben.» Ich konnte nichts Gemeinsames in diesen beiden Formen der Existenz erkennen. Kinder zu haben, die ihrerseits wieder Kinder bekämen, hieß nur bis ins Unendliche das ewige alte Lied wiederholen; der Gelehrte, der Künstler, der Schriftsteller, der Denker schufen eine andere, leuchtende, frohe Welt, in der alles seine Daseinsberechtigung erhielt. In ihr wollte ich meine Tage verbringen; ich war fest entschlossen, mir darin einen Platz zu verschaffen! Als ich auf den Himmel verzichtete, hatte mein irdischer Ehrgeiz sich deutlicher abgezeichnet: Man musste sich herausheben aus der Menge. Auf einer Wiese ausgestreckt, betrachtete ich in Augenhöhe das Wimmeln der Grashalme, die alle miteinander identisch waren und von denen jeder in dem Miniaturdschungel unterging, der ihm den Blick auf die andern benahm. Jede unendliche Wiederholung der Unwissenheit, der Indifferenz kam dem Tode gleich. Ich hob den Blick zu der Eiche empor; sie beherrschte die Landschaft und hatte nicht ihresgleichen. Ihr gedachte ich ähnlich zu sein.
Weshalb wollte ich schreiben? Als Kind hatte ich meine Kritzeleien noch kaum ernst genommen; mein wahres Bestreben ging auf Kenntnisse aus; ich gefiel mir darin, meine französischen Aufsätze niederzuschreiben, aber die Damen tadelten meinen gespreizten Stil; ich fühlte mich demgemäß nicht ‹begabt›. Als ich indessen mit fünfzehn Jahren in das Album einer Freundin die Neigungen und Pläne eintragen sollte, aus denen sich meine Persönlichkeit ergab, antwortete ich auf die Frage: ‹Was wollen Sie später werden?›, ohne zu zögern: ‹Eine berühmte Schriftstellerin.› Auf die Fragen nach dem Lieblingskomponisten und der Lieblingsblume hatte ich mir die Antwort eher künstlich zurechtgelegt. Aber in diesem Punkte gab es kein Zaudern bei mir: Unter Ausschluss aller sonstigen Möglichkeiten verlangte ich nur nach dieser.
Zunächst lag das an der Bewunderung, die ich für alle Schriftsteller hegte; mein Vater stellte sie durchaus noch über Naturwissenschaftler, Gelehrte oder Professoren. Auch ich war von ihrem Prestige überzeugt; selbst wenn ein Spezialist weit und breit bekannt war, so sprach sein Werk doch nur zu wenigen; Bücher aber las jeder: Sie rührten an die Einbildungskraft, an das Herz; sie trugen ihrem Autor den zugleich universalsten und persönlichsten Ruhm ein. Mir als Frau schienen außerdem diese Gipfel zugänglicher als einsame Hochebenen; die berühmtesten meiner Schwestern hatten sich in der Literatur hervorgetan.
Außerdem hatte ich immer in mir die Neigung verspürt, mich anderen mitzuteilen. In dem Album meiner Freundin hatte ich als meine Lieblingsbeschäftigungen Lektüre und Gespräch aufgeführt. Ich war mitteilsam von Natur. Alles, was mir im Laufe des Tages auffiel, pflegte ich zu erzählen, oder mindestens versuchte ich, es in Worte zu kleiden. Ich hatte Angst vor der Nacht, dem Vergessen; das, was ich gesehen, gefühlt, geliebt hatte, dem Schweigen überantworten zu müssen, zerriss mir fast das Herz. Wenn ich mich vom Mondschein ergriffen fühlte, wünschte ich mir eine Feder und Papier herbei und dazu die Fähigkeit, mich ihrer zu bedienen. Mit fünfzehn Jahren schwärmte ich für Briefwechsel und Tagebücher – zum Beispiel das der Eugénie de Guérin –, die aus dem Bemühen geboren sind, den Ablauf der Zeit festzuhalten. Es war mir jetzt auch klar, dass Romane, Novellen und Erzählungen nicht außerhalb des Lebens stehende Schöpfungen sind, sondern es jeweils auf ihre Weise auszudrücken suchen.
Wenn ich früher den Wunsch gehabt hatte, Lehrerin zu werden, so deshalb, weil ich davon träumte, Ursache und Zweck in einem zu sein; jetzt meinte ich, dass die Literatur mir erlauben würde, mir diesen Wunsch zu erfüllen.
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