Memoria
nächste Frage herauszubringen. «In Mexiko? Was? Warum? Wissen Sie, was zum Teufel hier vorgeht? Ich bin ein Collegeprofessor, um Himmels willen. Die müssen mich mit jemandem verwechselt haben.»
Er erzählte mir, dass sie ihn eines Morgens in aller Frühe überfallen hatten. Er konnte sich nicht genau erinnern, wie lange es her war. Seitdem hatten sich die Tage unterschiedslos aneinandergereiht. Sie hatten ihn gezwungen, seine Sekretärin anzurufen, dann hatten sie ihn geknebelt, ihm die Augen verbunden und ihn in den Kofferraum eines Wagens gepackt. Sie waren mit ihm irgendwohin gefahren, hatten ihn ein paar Stufen hinuntergeführt und an eine Wand gefesselt. Er war dort von ein paar Bikern gefangen gehalten worden, die sich nicht mehr um die Augenbinde geschert hatten. Dann hatten andere ihn geholt, Spanisch sprechende Männer, dem Typ nach Lateinamerikaner beziehungsweise, jetzt, wo ich es sagte, höchstwahrscheinlich Mexikaner. Als sie ihn hinausbrachten, hatte er die Leichen der Biker im Clubraum liegen sehen.
Jetzt war es an mir zu erklären, wer ich war. «Ich bin der Vater von Alex Martinez. Und nein, man hat Sie nicht verwechselt. Sie – wir alle – sind wegen Alex hier.»
Seine Verblüffung wuchs sichtlich.
Es hatte nicht den Anschein, als würden wir so bald hier rauskommen, und so erzählte ich ihm, was ich wusste.
Dann hörte ich seine Geschichte an.
Tess erwachte in einer sehr anderen Umgebung.
Ihr Zimmer war mit altmodischen Mahagonimöbeln eingerichtet, hatte freiliegende Balken, Musselinvorhänge und hohe Fenster, durch die der Raum in goldgelbes Licht getaucht wurde. Aus den üppig belaubten Bäumen vor den Fenstern drang Vogelgezwitscher herein – sie hätte sich beinahe vormachen können, sie befinde sich in einem verschlafenen Boutique-Hotel, wäre da nicht der Mann gewesen, der gegenüber ihrem Bett in einem Sessel saß und sie mit undurchdringlichem Stirnrunzeln anstarrte.
«Wo bin ich?», fragte Tess, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
«Sie sind meine Gäste.» Dann, mit Betonung und einem papierdünnen Lächeln: «Sie alle.»
Sie setzte sich kerzengerade auf. «Wo ist Alex? Und Sean?»
«Alex geht es gut. Er schläft noch. Ich werde dafür sorgen, dass Sie bei ihm sind, wenn er aufwacht.»
Ihr graute vor der zweiten Frage. «Was ist mit Sean?»
Der Mann schwieg kurz, als müsse er sich die Antwort erst überlegen. Oder wollte er sie nur noch ein wenig auf die Folter spannen? «Er ist hier», erwiderte er schließlich. «Es geht ihm gut.»
Tess entspannte sich ein wenig.
Der Mann musterte sie mit schmalen Augen. «Sie wissen, warum Sie hier sind, nicht wahr?»
Tess war unsicher, was sie darauf erwidern sollte. «Ich denke schon», antwortete sie schließlich, «auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich es glaube.»
«Oh, glauben Sie es, Tess. Vertrauen Sie mir. Es ist ganz real. Ich weiß es.» Sein Gesicht entspannte sich zur Andeutung eines Lächelns. «Ich war dort. Ich habe es gesehen. Es ist alles ganz und gar real.»
Tess überlief ein Prickeln. «Woher wissen Sie das?»
Er winkte ab, stand auf und trat ans Fenster. «Das werden Sie schon noch verstehen. Später.» Mit dem Rücken zu ihr stehend, fügte er hinzu: «Zuerst einmal sollten Sie sich fragen, warum Sie noch am Leben sind. Und diese Frage ist einfach zu beantworten. Sie sind hier, weil Alex sich wohlfühlen und sich entspannen soll, damit Doktor Stephenson seinen Zauber wirken und mir von dem Jungen die Informationen beschaffen kann, die ich brauche.» Er wandte sich zu ihr um. Sein Gesicht verriet keine Regung. «Das ist der einzige Nutzen, den Sie hier für mich haben, Sie verstehen?»
Tess starrte ihn an, und nach allem, was sie über ihn wusste, konnte sie nur nicken.
«Gut. Ich lege Ihnen also dringend nahe, mir zu helfen. Nicht nur um Ihretwillen. Auch in Alex’ Interesse. Es wäre mir lieber, wenn Stephenson die Informationen ohne Probleme aus ihm herausholt. Sollte es Schwierigkeiten geben, habe ich noch andere Mittel und Wege, Alex’ Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Mittel, die für einen vierjährigen Jungen vielleicht nicht besonders angenehm sind. Ich rate Ihnen also wirklich dringend, Stephenson und Alex zu helfen, an die Erinnerungen heranzukommen.»
«Und dann?», fragte Tess, der bereits klar war, wie die Antwort – die ehrliche Antwort – lautete.
Wieder das papierdünne Lächeln. «Wir werden sehen. Helfen Sie mir zu bekommen, was ich will, und wer weiß, wie
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