Memoria
Schlussfolgerung zu widerlegen, schnell, ihre Argumentation auseinanderzunehmen und in Nanopartikel aufzusprengen, die nie wieder zusammenzusetzen waren.
Es gelang mir nicht.
Ich hatte das Gefühl, mein Kopf müsse explodieren wie bei einem Astronauten irgendwo im Weltraum, dessen Helm einen Riss hatte. Und ich wünschte, ich wäre im Weltraum, wo einen, wenn man den Filmen Glauben schenkt, niemand schreien hören kann. Ich hätte wirklich am liebsten laut geschrien. Aber das ging nicht, hier vor Tess, und wo Alex und Jules und der andere Agent in der Nähe waren. Stattdessen lehnte ich mich zurück, ließ den Kopf gegen den Baumstamm sinken und schloss die Augen.
Tess setzte sich neben mich.
Nach einer Weile fragte ich sie: «Hältst du das wirklich für möglich?»
Sie schwieg, dann erwiderte sie: «Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Und ehrlich gesagt, ich bin hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, es möge so sein, und der Hoffnung, es möge nicht so sein.» Sie legte mir eine Hand auf den Arm und beugte sich zu mir herüber. «Um deinetwillen wünsche ich, dass es nicht wahr ist. Und um Alex’ willen. Es wäre so … grausam. Und unfair. Und ein Teil von mir bereut, dass ich der Sache überhaupt nachgegangen bin. Aber wenn es wahr ist … dann können wir nicht den Kopf in den Sand stecken. Es ist besser, wenn wir uns der Sache stellen, uns mit ihr auseinandersetzen und nach einer Möglichkeit suchen, wie Alex und du die Vater-Sohn-Beziehung haben könnt, die ihr beide so sehr verdient.»
Sie schaute zum dunklen Himmel auf. Ich folgte ihrem Blick. Das Firmament erschien mir gewaltiger und grenzenloser denn je.
«Und wenn es wirklich so ist … Himmel. Das würde alles verändern. Wenn nach diesem Leben nicht alles zu Ende ist, wenn eine Möglichkeit besteht, dass wir wiederkommen … Aber das ist ein anderes Thema. Vielleicht sollten wir nicht gerade jetzt darüber sprechen.»
Ich nickte, eher zu mir selbst als an sie gerichtet. Das alles konnte warten. «Ich muss dafür sorgen, dass Alex in Sicherheit ist», sagte ich. «Ein für alle Mal. Wenn Navarro tatsächlich glaubt, er sei die Reinkarnation von McKinnon, dann ist Alex nicht sicher, solange der Dreckskerl nicht hinter Schloss und Riegel ist. Dafür muss ich zuallererst sorgen. Danach … beschäftigen wir uns mit dem Rest.»
Ich musste Navarro finden. Aber wenn ich ihn gefunden hatte, musste ich ihn zum Schweigen bringen, für immer. Ich wollte nicht, dass irgendetwas von dieser Sache jemals bekannt wurde; es würde Alex auf Jahre hinaus verfolgen und ihm das Leben schwer machen. Außerdem wollte ich nicht, dass Navarro aus einer Gefängniszelle heraus etwas ausplauderte, sodass die anderen Drogenbosse scharenweise Jagd auf meinen Sohn machen würden, als sei er ihre goldene Gans.
Ich musste El Brujo finden.
Ich ahnte nicht, dass er mich zuerst finden würde.
Kapitel 61
Ich hörte nicht, wie sie hereinkamen.
Es war spät. Sehr spät, oder eher sehr früh, je nachdem, wie man es betrachtete. Ich schlief nicht, aber meine Sinne waren wohl so betäubt, dass ich auch nicht sagen könnte, ich war wach. Ich war körperlich und geistig am Boden und hätte den Schlaf wirklich nötig gehabt. Zuerst schlief ich auch ein. Vielleicht für ein paar Stunden. Dann irgendwann gegen halb fünf Uhr morgens öffneten sich meine Augen, und vorbei war es mit Schlafen.
Jules und Cal, der neue Aufpasser, wachten abwechselnd in Zwei-Stunden-Schichten. Ich hatte angeboten, mich an der Wache zu beteiligen, aber meine Schicht begann erst um sechs. Und doch lag ich wach und starrte an die Decke. Vielleicht fand ich keine Ruhe, ehe ich nicht ein Schlupfloch entdeckte, irgendeine Möglichkeit, Tess’ Theorie auszuhebeln. Oder vielleicht war es etwas in mir – ein überwaches Gehör oder eine Art übersinnliche Wahrnehmung, ob man es nun wissenschaftlich oder, da meine Gedanken ohnehin in diese Richtung gingen, eher esoterisch erklären wollte –, das mich weckte, weil Gefahr nahte. Wie auch immer, jedenfalls war ich wach, zumindest halbwegs, und lag neben Tess im Bett, gefangen in diesem wirklich zermürbenden Zustand, in dem man zu müde zum Denken ist, aber zu aufgedreht, um zu schlafen.
Ich glaubte, ein leises Knarren zu hören, wie von einer Bodendiele oder einer Tür. Vielleicht holte Jules sich gerade eine Tasse Kaffee aus der Küche – oder war es Cals Schicht? Ich war nicht sicher. Wahrscheinlich Jules’. Für einen Moment war es wieder
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