Memoria

wissen, glauben viele Menschen etwas anderes. Die Frage, wann und wie sich in diesem Zellklumpen eine Seele einnistet, das ist eine Frage, vor der schon die größten Geister der Menschheitsgeschichte ratlos standen. Und die schlichte Antwort ist: Man weiß es nicht. Die Japaner glauben, dass die Seele ihren Sitz im Bauch hat, darum wird beim rituellen Selbstmord, dem Seppuku, die Klinge dort eingestochen. Descartes und die meisten Wissenschaftler nach ihm glauben, dass die Seele im Gehirn lebt. Kopfverletzungen können daher zu Persönlichkeitsveränderungen führen. Aber wo genau, und was bedeutet das? Im Grunde wissen wir es nicht. Da Vinci hat mit Fröschen experimentiert und kam zu dem Schluss, die Seele säße an der Stelle, wo das Rückenmark ins Gehirn übergeht. Manche Wissenschaftler haben sogar versucht, das Körpergewicht sterbender Patienten exakt zum Zeitpunkt des Todes zu bestimmen. Sie behaupteten, mit dem Tod trete ein winziger, aber messbarer Gewichtsverlust ein, und erklärten ihn mit dem Gewicht der Seele, die ihre tote Hülle verlässt.»
    «Einundzwanzig Gramm?», warf ich mit leisem Schnauben ein – ich hatte diese Theorie unzählige Male gehört.
    «Wohl eher einundzwanzig Nanogramm, wenn überhaupt.» Stephenson zuckte die Schultern. «Aber die eigentliche Frage ist: Kann eine Seele außerhalb des Körpers existieren? Kann Bewusstsein außerhalb des Gehirns bestehen? Außerkörperliche Erfahrungen – für die wir reichlich Belege haben – legen nahe, dass die Antwort ja lautet. Wussten Sie, dass viele Fälle dokumentiert sind, in denen transplantierte Patienten manche Persönlichkeitszüge und Erinnerungen der Organspender übernommen haben? Wie ist das möglich? Und worin besteht Bewusstsein, wenn nicht in Persönlichkeitszügen und Erinnerungen? Aber es liegt noch viel Arbeit vor uns, ehe wir das beweisen können, sofern es überhaupt möglich ist. Und es ist umso schwerer, als dieses Thema in unserem Land im Bereich der Wissenschaft ein Tabu ist. Die Leute denken, es sei bloß Stoff für Horrorfilme und Fernsehshows. Aber in vielen anderen Kulturen ist Reinkarnation kein Tabu. Die Vorstellung ist fest in der Kultur und der Religion verwurzelt. Nur in unserer nicht. Die Leute hier – ich meine, in unserer Heimat», korrigierte er sich düster, «sind einfach nicht bereit, solche Theorien ernst zu nehmen und sich wissenschaftlich mit ihnen zu beschäftigen. Wenn ein Kind anfängt, seltsame Dinge zu erzählen, denken die Eltern zunächst, das hat es sich ausgedacht oder im Fernsehen gesehen oder dergleichen. Oder sie glauben, ihr Kind sei nicht normal, und ermahnen es, nicht solchen ‹Unsinn› zu reden. In anderen Kulturen haben die Eltern eine ganz andere Grundhaltung. Sie würden das Kind im Gegenteil ermutigen, ihnen mehr von dem zu erzählen, was es weiß, und sich fragen, ob das Anzeichen für eine reinkarnierte Seele sind. Sie würden Nachforschungen anstellen. Das ist ein weiteres Thema, mit dem ich mich in meiner Arbeit beschäftigt habe: Führt diese kulturelle Bereitschaft dazu, dass die Leute Verbindungen und Erklärungen finden, die in ihre Theorie passen, oder finden sie bei den Nachforschungen wirklich etwas Belegbares?»
    «Ich finde es erstaunlich, dass Sie sich nicht haben entmutigen lassen», bemerkte ich. «Wenn man bedenkt, wie sehr Sie unter Beschuss geraten sind.»
    Er stieß einen tiefen Seufzer aus, und sein Gesicht nahm einen melancholischen Ausdruck an. «Es ist einfach eine Schande. Dass wir so vorurteilsbelastet und engstirnig sein können, wenn es um eine Frage geht, die ich für die größte von allen halte. Aber so ist es von jeher gewesen, insbesondere in Bezug auf alles, was mit der nicht physischen Welt zu tun hat. Darum wissen wir nicht viel darüber. Andererseits – vor gar nicht langer Zeit wussten wir auch nicht viel über die subatomare Welt. Stellen Sie sich nur mal einen Moment lang vor – wenn wir es beweisen könnten. Wenn wir Beweise dafür hätten, dass es Reinkarnation wirklich gibt, unanfechtbare Beweise. Das würde alles verändern. Eine Menge Leute würden natürlich sofort auf die Barrikaden gehen, sie würden erbittert dagegen ankämpfen. Aber wenn wir es verinnerlicht hätten, würde es uns zu besseren Menschen machen. Alle großen Revolutionen im menschlichen Denken haben das bewirkt. Sie haben uns bescheidener und humaner gemacht, indem sie uns ein besseres Verständnis davon ermöglichten, was wir sind, was unsere Stellung