Memoria
Verfallsdatum überschritten hatte. Auf dem Weg durch das Terminal beschränkten wir uns auf oberflächliches Geplauder über Nevada und den Flug. Draußen traf mich die sengende Mittagshitze wie ein Schlag, und ebenso schlagartig brach die Erinnerung über mich herein, als ich über denselben Gehweg ging, auf dem nicht einmal vierundzwanzig Stunden zuvor Michelle gestorben war.
Das alles war noch zu frisch für mich. Ich bin ziemlich sicher, dass Tess meinen Gesichtsausdruck bemerkte, als ich auf den Boden schaute, aber sie fragte nicht nach, sondern ging schweigend neben mir her zum Parkplatz. Das FBI hatte mir einen Leihwagen besorgt, einen Buick LaCrosse, der, wenn man über den unglücklichen Namen mit dem ach so originellen großen C hinwegsah, ein ganz anständiger Wagen war.
Ich verstaute gerade Tess’ Gepäck im Kofferraum, als ich ihre Hand auf meinem Arm fühlte.
«Es tut mir wirklich leid wegen deinem Verlust, Sean.»
Sie ließ ihre Hand an meinem Arm aufwärts gleiten und drehte mich zu sich herum. Ich zog sie an mich und küsste sie, ein impulsiver, inniger, begieriger Kuss, der mir im nächsten Augenblick schon seltsam unpassend vorkam. Ich löste meine Lippen von ihren und umarmte Tess stattdessen, ihren Kopf an meine Schulter gedrückt, sodass ich ihr nicht in die Augen sehen musste. So standen wir einen langen Moment schweigend da, bis ich schließlich sagte: «Ich bin froh, dass du gekommen bist.»
«Ich konnte gar nicht anders», erwiderte sie mit einem halben Lächeln.
Ich gab ihr noch einen Kuss, diesmal allzu flüchtig, dann stiegen wir in den Wagen und fuhren los.
Sie fragte mich, wie es Alex ging. Der Junge war in schlechter Verfassung. Die Nacht hatte er an Jules geschmiegt zugebracht und war alle paar Stunden aus Albträumen aufgewacht, wobei er einmal sogar eingenässt hatte. Sosehr es mich drängte, bei ihm zu sein und ihm zu helfen, all das durchzustehen – ich sah ihm doch noch immer jedes Mal das Unbehagen an, wenn ich versuchte, mich ihm zu nähern. Also hielt ich mich zurück, während Jules ihn tröstete, so gut sie konnte.
Das Hilton lag gut erreichbar an der Kreuzung der Freeways Cabrillo und Mission Valley. Wir kamen an Familien vorbei, deren Kinder mit T-Shirts und Mützen von SeaWorld aufgeregt umherliefen, und an kleinen Grüppchen von Konferenzteilnehmern, die versuchten auszusehen, als seien sie gern hier. Schließlich erreichten wir die Zweizimmersuite im obersten Stockwerk, die Villaverdes Leute für uns gebucht hatten.
Alex hockte im Wohnzimmer vor dem Fernseher, und neben ihm saß Jules, fürsorglich wie immer. Ich war unsicher, wie Alex auf Tess reagieren würde – schon wieder tauchte ein neues Gesicht in seinem Leben auf, und das zu einer Zeit, da er eigentlich nur das seiner Mutter sehen wollte –, aber es lief besser als erwartet. Für Tess jedenfalls. Ich dagegen schien für ihn noch immer eine Art Schreckgespenst zu sein.
Tess bemerkte es sofort.
Nach einem Moment wandte sie sich mir zu und flüsterte, sodass Alex es nicht hören konnte: «Er scheint wirklich Angst vor dir zu haben.»
Ich nickte kläglich. «Ich hab’s dir ja gesagt. Es ist einfach frustrierend. Ich weiß nicht, wie ich das überwinden kann.»
Tess fasste mich am Arm. «Er braucht Zeit. Du warst dabei, als sie starb. Er verbindet dich damit.»
«Ja, aber da muss noch etwas anderes sein … Es hat schon vorher angefangen.»
Tess runzelte verwirrt die Stirn, dann sah sie sich nach Alex um.
«Wir sollten dafür sorgen, dass er ein wenig rauskommt, findest du nicht? Irgendwas Nettes mit ihm unternehmen, damit er mal wieder einen Grund zur Freude hat.» Ohne meine Antwort abzuwarten, ging sie auf Alex zu und kniete sich vor ihn hin, sodass sie ihn auf Augenhöhe ansehen konnte.
«Wie wär’s, Alex?», fragte sie ihn. «Hättest du Lust auf einen Ausflug, zum Pizzaessen oder so? Was ist dein Lieblingsessen? Wo würdest du am liebsten hingehen? Du brauchst es nur zu sagen.»
Es dauerte nicht lange, bis Alex ihrem Charme erlegen war, und sie entlockte ihm das erste Beinahe-Lächeln, das ich bei ihm sah, als sie sagte, Cheesecake Factory sei auch ihr Lieblingsimbiss. Ich beobachtete aus einigem Abstand, wie die beiden diskutierten, was köstlicher war, Key lime oder Oreo, doch dann schlug die sich ausbreitende Wärme in mir augenblicklich wieder in Eiseskälte um, als Alex die Killerfrage stellte, die er schon so oft gestellt hatte.
«Was ist mit meiner Mama? Kommt sie auch
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