Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
es höchste Zeit gewesen war, diese Reise anzutreten. Zweifellos.
Sie hatte Leif auf dem Handy angerufen, aber nur eine halbe Minute mit ihm sprechen können, bevor das Gespräch unterbrochen wurde. Er hatte nicht besonders überrascht geklungen, doch das tat er ja eigentlich nie. Begnügte sich damit, ihr zu versichern, dass Kristoffer und er keine Not leiden würden, und zu fragen, wie lange sie denn fortbleiben wolle.
Ein paar Tage, hatte sie geantwortet, war sich aber nicht sicher, ob er es verstanden hatte. Nun ja, dachte sie. Er kann ja anrufen, wenn es ihn interessiert.
Der Zug hielt in Knivsta. Plötzlich erinnerte sie sich, dass sie hier einmal in einer Schule Vertretungsstunden gegeben hatte. Es war in einem Januar gewesen, im zweiten – oder vielleicht vierten? – Semester ihrer Ausbildung zur Ärztin, sie hatte einen Kursus frühzeitig fertig bekommen und wollte ein wenig Geld verdienen. Mathematik und Biologie. An was sie sich noch am besten erinnerte, war die bedrohliche Menge feindlich gesinnter Jugendlicher und das Gefühl, Kräften ausgeliefert zu sein, die sie nicht kontrollieren konnte. Es hatte einer enormen Anstrengung bedurft, die Stunden zu geben, und als alles überstanden war – es konnte sich nicht um mehr als insgesamt acht oder zehn Tage gehandelt haben – und sie sich wieder ihrem Medizinstudium widmen konnte, hatte sie eine Welle der Dankbarkeit gespürt, dass sie nicht in die Fußstapfen ihres Vaters getreten war und den Lehrerberuf gewählt hatte.
Aber mein Gott, sie war damals erst zwanzig oder einundzwanzig gewesen, es gab Schüler, die nur fünf Jahre jünger als sie selbst waren.
Aber was ihr jetzt merkwürdig erschien: Diese Schule musste sich irgendwo dort draußen vor den Zugfenstern befinden. Die Klassenräume, in denen sie unterrichtet hatte, dieses kiefernfurnierte Lehrerzimmer mit seinen stummen Ledersofas und halbtoten, verstaubten Topfpflanzen – und diese Lehrer, zumindest die jüngeren … all das existierte immer noch und hatte die ganze Zeit seit damals existiert, an all diesen Tagen, während all dieser Stunden, seit jetzt fast zwanzig Jahren, während sie selbst voll beschäftigt war mit ihrem Leben, ihrer Familie und ihrem Beruf … und aus irgendeinem Grund fand sie diesen Gedanken, diese Einsicht, einfach schrecklich, nahezu obszön, und sie sagte zu sich selbst, dass ihr Leben die Spur wechseln und sie die Möglichkeit haben würde, noch einmal neu anzufangen, am damaligen Punkt, wenn sie jetzt aus dem Zug eilte, die Schule fand und hineinging – wenn es ihr gelänge, beispielsweise den Klassenraum mit dem großen Wasserfleck an der Decke zu finden und mit den unbegreiflich hässlichen grünen Verdunklungsgardinen. Mitten in den Achtzigern, vor zwanzig Jahren, ja, 1985 musste das gewesen sein, im gleichen Jahr, in dem Leif Grundt in ihr Leben trat, bevor ihre Kinder auf die Welt kamen, bevor alles die unwiderrufliche Bahn einschlug, die bis zu den schrecklichen Ereignissen an ihrem vierzigsten Geburtstag geführt hatte … aber wenn sie in diesem Moment nun einfach aus dem Zug sprang und in den Ort Knivsta lief, dann würde sich die Zeit wie eine Möbiusschleife um ihre eigene Schulter winden, und sie bekäme die Möglichkeit, ihr Leben noch einmal zu beginnen und es in eine vollkommen andere Richtung zu lenken, in der sie niemals ihren geliebten Sohn verlöre und in diesem schwarzen Vakuum hängenbliebe zwischen zwei grünweißen …
Etwas ist mit meinen Gedanken los, unterbrach sie sich, als der Zug ruckte und sich wieder in Bewegung setzte. Irgendetwas stimmt nicht. Jede Idee, wie verrückt auch immer, kann Zutritt zu meinem Kopf begehren. Und bekommt ihn. Ich muss meine Grenzen finden. Ich muss dem ein Ende setzen. Ich muss … ich kenne ja meine eigene Gedankenwelt nicht wieder, und was … was für ein Ich bleibt dann noch zurück? Wer ist es dann eigentlich, der was nicht mehr erkennt?
Sie nahm eine zurückgelassene Anzeigenzeitung als Gegengift hoch, begann in ihr zu blättern, las aber nicht eine Zeile. Blieb stattdessen in ihrem erschrockenen Inneren verhaftet und wandte sich an den Gott, an den sie nicht glaubte.
Hilf mir, bitte, betete sie. Lass mich nicht wahnsinnig werden. Lass zumindest das Gespräch mit meiner Schwester einen kleinen Schritt in die richtige Richtung sein. Strafe mich nicht für meinen Hochmut.
Letzteres war ein Gedanke, der sie in den letzten Tagen immer wieder gestreift hatte. Hochmut. Der Verlust von Henrik –
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