Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
Jane ist also vor ein paar Wochen ums Leben gekommen. Sie ist in Oslo von einem Bus überfahren worden, ich weiß … ich weiß nicht, was sie dort zu tun hatte. Sie wohnte seit ein paar Jahren hier in Kymlinge. Meine Schwester war … nicht ganz gesund.«
»Nicht ganz gesund?«, wiederholte Barbarotti.
»Nein, sie hatte eine Persönlichkeitsstörung, wie man so sagt, und das schon ziemlich lange Zeit.«
»Wie alt war Ihre Schwester?«, fragte Eva Backman.
»Sechsunddreißig. Zwei Jahre älter als ich. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, es ist eine so lange Geschichte.«
»Wir haben genügend Zeit«, versicherte Gunnar Barbarotti. »Fangen Sie doch mit dem Anfang an.«
Linda Eriksson nickte und trank wieder ein wenig Wasser.
»Gut«, sagte sie. »Man kann wohl sagen, dass ich aus einer Problemfamilie stamme.«
Sie versuchte es mit einem entschuldigenden Lächeln, als wolle sie sich dafür entschuldigen, dass es so etwas überhaupt gab. Barbarotti spürte eine Welle der Sympathie für diese schmächtige und dennoch starke Frau. Er beschloss, ohne sich dessen eigentlich bewusst zu sein, nichts von dem, was sie sagen würde, in Frage zu stellen.
»Aber das kostet natürlich seinen Preis«, fuhr sie fort. »Wir sind drei Geschwister, ich bin die Jüngste. Meine Mutter ist seit mehreren Jahren in der Psychiatrie, mein Bruder Henry, er ist der Älteste, hat noch mindestens zwei Jahre von seiner letzten Gefängnisstrafe abzusitzen … ja, und dann ist da Jane. Meinen Vater habe ich nie gesehen, Henry und Jane haben einen anderen, aber der ist tot. Wir sind also Halbgeschwister. Es heißt, dass mein Vater Engländer war … ich weiß nicht, ob das stimmt, aber meine Mutter hat es immer behauptet.«
»Aber Sie sind zusammen aufgewachsen?«, warf Eva Backman ein. »Sie und Ihre Halbgeschwister?«
»Mal ja, mal nein.«
»Und wo?«, fragte Gunnar Barbarotti.
»Überall. Ich glaube, in meinen ersten fünfzehn Lebensjahren habe ich an zehn verschiedenen Orten gewohnt«, erklärte Linda Eriksson mit einem flüchtigen Lächeln. »Darunter auch zwei Jahre hier in Kymlinge. Henry ist acht Jahre älter als ich, er ist ziemlich früh von zu Hause abgehauen. Aber Jane und ich … ja, wir sind wie Geschwister aufgewachsen. Wir hatten sozusagen nur einander.«
»Wenn wir uns jetzt auf Jane konzentrieren«, schlug Barbarotti vor. »Hatten Sie auch als Erwachsene weiterhin guten Kontakt zueinander?«
Linda Eriksson schüttelte den Kopf. »Nein, leider nicht. Es hat nicht geklappt. Den Kontakt mit Jane aufrechtzuerhalten, das wäre wie … ja, als wenn man von jemandem hinuntergezogen wird, der dabei ist zu ertrinken.«
»Wieso?«, fragte Eva Backman.
»Weil sie so ist, wie sie ist. Das fing schon in den letzten Schuljahren an, sie hat schon früh alle möglichen Drogen ausprobiert. War immer nur mit sich und den eigenen Problemen beschäftigt, was zu dem Krankheitsbild gehört. Seit sie achtzehn war, ist sie in verschiedenen Therapieeinrichtungen gewesen, und da haben wir so langsam den Kontakt verloren. Aber zum Schluss gab es wohl eine Behandlung, die zu funktionieren schien, jedenfalls kam sie von den Drogen los und hat einen Mann gefunden … zu der Geschichte gehört, dass es unserer Mutter auch schlecht ging. Als ich das letzte Jahr aufs Gymnasium ging, bin ich zu Hause ausgezogen, die Sozialbehörde und eine Schulpsychologin haben dafür gesorgt, dass ich eine eigene Wohnung gefunden habe.«
»Und Jane?«, fragte Gunnar Barbarotti.
»Ja, sie kam zusammen mit diesem Germund. Die beiden haben geheiratet und zwei Kinder gekriegt. Sind nach Kalmar gezogen. Ich dachte, es ginge ihnen gut, aber als ich sie nach ein paar Jahren einmal besuchte, sah ich, dass ich mich geirrt hatte. Keiner von beiden hatte eine richtige Arbeit, er war natürlich auch mal drogenabhängig gewesen, sie gehörten zu so einer Art Sekte und machten jede Menge merkwürdiger Dinge. Ich habe sie nur dieses eine Mal besucht, und ein halbes Jahr später habe ich erfahren, dass es zur Katastrophe gekommen war. Jane hatte versucht, ihren Mann und ihre Kinder umzubringen, dahinter lag irgend so eine Eifersuchtsgeschichte, und alles endete damit, dass sie schließlich in die Psychiatrie zwangseingewiesen und ihr verboten wurde, Kontakt zu ihren Kindern aufzunehmen.«
»Und der Mann erhielt das Sorgerecht?«
»Ja. Man ging offenbar davon aus, dass er dazu in der Lage sei. Aber ich weiß nicht, später gab es da jede Menge Ärger … was aber
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