Mensch ohne Hund: Roman (German Edition)
oder seine Abwesenheit – war eine Art Quittung dafür, dass sie die falschen Dinge in ihrem Leben wertgeschätzt hatte. Dass sie egoistisch gewesen war, dass sie die Karriere über ihre Familie gestellt hatte, dass sie durchgehend andere Dinge vorgezogen hatte. Rein medizinisch und rein intellektuell konnte sie das natürlich als einen automatischen Zwangsgedanken abtun, so dachte man nun einmal in Situationen wie dieser – doch im Innersten ihres Herzens erschien er wie eine Gleichung, die immer größere Gültigkeit erlangte, je mehr Zeit verstrich. So sah die Waagschale aus. Das war die Strafe für ihre Versäumnisse.
Es war kurz nach halb acht, als sie im Hotel Terminus gegenüber vom Hauptbahnhof eincheckte. Das Zimmer lag im fünften Stock, sie hatte den Blick auf das gesamte Gleisareal, über das Stadthaus und Kungsholmen – über Wasser, Brücken und Gebäude, die sie nicht einmal mit Namen kannte. Ich könnte nach Stockholm ziehen, kam ihr in den Sinn. Wenn ich meinen Sohn nicht finde, kann ich ebenso gut alles andere hinter mir lassen. Ich suche mir eine Stelle bei Danderyd oder im Karolinska und gehe in der absoluten Anonymität auf.
Sie zog die Gardinen vor, wandte sich dem Zimmer zu und biss die Zähne zusammen, um nicht weinen zu müssen. Wozu zum Teufel war es gut, sich solchen illusorischen Wahnvorstellungen hinzugeben?, dachte sie. Warum sich einbilden, es wäre möglich, weiterzuleben? Warum sich einbilden, dass Kristina auch nur einen Funken von Licht auf die Dinge werfen könnte?
Warum überhaupt noch etwas hoffen?
In der Minibar fand sie zwei kleine Fläschchen Whisky. Besser als nichts, dachte sie und schraubte von einem die Kapsel ab.
Gestärkt von der kleinen Menge Alkohol rief sie zwanzig Minuten später ihre Schwester an. Erzählte ihr kurz und knapp, dass sie seit einiger Zeit krankgeschrieben war und es ihr nicht so gut gehe, das war zweifellos eine Neuigkeit für Kristina, dennoch kommentierte sie sie nur sehr knapp. Sagte, dass das eingedenk der Umstände ja nur natürlich sei. Oder etwas ähnlich Triviales. Ebba erklärte ihr, dass sie aus anderen Gründen für ein paar Tage in Stockholm sei, und fragte Kristina, ob diese etwas dagegen habe, sich für ein Gespräch zu treffen.
»Worüber?«, wollte Kristina wissen.
»Über Walter und Henrik«, erklärte Ebba.
»Und wozu soll das gut sein?«, wunderte Kristina sich.
Plötzlich bekam Ebba Atemnot. Als gäbe es mit einem Mal in dem engen Raum keinen Sauerstoff mehr. »Weil … weil du damals so guten Kontakt zu Henrik gehabt hast«, brachte sie heraus. »Du hast doch immer guten Kontakt zu ihm gehabt. Mir ist in den Sinn gekommen, dass er vielleicht … dass er dir vielleicht etwas gesagt hat an dem Abend, als er verschwunden ist.«
Ein paar Sekunden lang blieb es still im Hörer, bevor Kristina antwortete. Nein, erklärte sie dann, das habe Henrik nicht. Natürlich nicht, sonst hätte sie es ja gesagt. Ebba oder der Polizei oder allen, die sich wunderten, was bilde Ebba sich eigentlich ein? Aber falls sie am nächsten Tag nachmittags hereinschauen wolle, könnten sie gern eine Tasse Tee zusammen trinken und sich unterhalten. Zwischen eins und drei passe es am besten, dann sei sie garantiert frei von Mann und Kind.
Nur irgendwelche Hilfe dürfe sie nicht erwarten.
Ebba bedankte sich – als wäre ihr eine Art von Gnade zuteil geworden – und legte den Hörer auf. Blieb ein paar Sekunden lang unentschlossen sitzen. Stellte den Fernseher an und schaute sich eine Weile die Nachrichten an. Spürte, wie sie schrumpfte. Stellte den Fernseher wieder aus, duschte und ging ins Bett. Es war erst halb zehn. Sie löschte das Licht und holte fünfmal tief Luft, wie sie es immer tat, um die Unruhe und Mühen des Tages loszuwerden.
Doch der Schlaf kam nicht zu ihr wie geplant. Stattdessen kam eine Erinnerung. Sie kristallisierte sich aus ihrer eigenen Dunkelheit und der kompakten Finsternis des Hotelzimmers, und sie schien nicht zur Heilung gedacht zu sein.
Ein Sommer vor mehreren Jahren. Die Jungen waren wohl zwölf und sieben Jahre alt. Sie hatten für den ganzen Sommer ein Haus auf Jütland gemietet. Sie war diejenige, die das arrangiert hatte, ein Kollege vom Krankenhaus war zu Forschungszwecken in den USA und wollte nicht, dass sein Sommerhaus leerstand. Leif und die Jungen fuhren gleich nach Schulende hin, sie selbst arbeitete noch eine Woche im Juli. Aber es war abgemacht, dass sie über die Mittsommernacht ebenfalls
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