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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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»executive branch« genannt), leidet gleichfalls unter der Überforderung. Es gibt kaum je die in Europa üblichen wöchentlichen, der gemeinsamen Diskussion und gemeinsamen Beschlußfassung vorbehaltenen Kabinettssitzungen; häufig dient eine Kabinettssitzung in Washington nur der Akklamation für das Fernsehen. In den meisten Fällen ist die Handlungsfreiheit eines amerikanischen »secretary« deutlich kleiner als die eines westeuropäischen Ministers. Der Präsident sieht seine Minister – mit Ausnahme der wichtigsten – kaum je zum Vortrag; vielmehr wird er über ihre Absichten und ihre Tätigkeit durch die Mitglieder seines eigenen Stabes informiert. Sein Stab gibt Weisungen an die Minister aus, was zu unklar abgegrenzten ministeriellen Verantwortlichkeiten führt und die Stabsarbeiter im Weißen Haus dazu verleitet, die Qualität der Minister öffentlich danach zu beurteilen, wie weit sie gute Mitspieler (»team-player«) sind, das heißt: wie gut sie sich von den Stabsangehörigen des Weißen Hauses leiten lassen.
    Die entscheidenden Angehörigen des Stabes, überwiegend in Wahlkämpfen geschult, legen in erster Linie innenpolitische und Public-Relations-Maßstäbe an; als William Clark Sicherheitsberater Reagans wurde, hatte er von der Außen – wie von der Sicherheitspolitik seines Landes nur ungewisse Ahnungen. Er hat weder
im Juli/August 1982 im Falle des Waldspaziergangs und seiner Ablehnung durch Reagan noch 1983 im Falle der Verkündung von SDI und der Erklärung, dieses System werde alle Nuklearwaffen obsolet machen, für eine vorherige, allseitige Durchleuchtung der komplexen Materie sorgen können, weil er die Probleme gar nicht erkannt hatte. In beiden Fällen begriff man im Weißen Haus überhaupt nicht, daß hier auch die Interessen der Verbündeten tangiert waren.
    Wenn schon der Präsident selber in solchen Situationen keine Neigung zu einer vertiefenden außenpolitischen Analyse verspürt, so könnte es theoretisch immer noch eine Eingreifreserve in der Person des Vizepräsidenten geben. Aber trotz der häufigen Ankündigung von Präsidenten, sie beabsichtigten, von ihrem Vizepräsidenten operativen Gebrauch zu machen, trotz der dreimaligen Erfahrung mit den Amtsantritten von Truman, Johnson und Ford, die unvermittelt aus der Stellung des Vizepräsidenten ins Präsidentenamt aufgestiegen sind, wird der Vizepräsident durch den Stab des Weißen Hauses in aller Regel auf Eis gelegt. Als Nelson Rockefeller Vizepräsident war, hat er mir sarkastisch erklärt, seine Zuständigkeit beschränke sich auf die Repräsentation der USA bei Erdbeben und Begräbnissen.
    Theoretisch denkbar wäre noch, daß wenigstens der Stabschef im Weißen Haus den zusammenfassenden weltpolitischen Überblick sicherstellt; dies hat zum Beispiel McGeorge Bundy als Stabschef unter Kennedy geleistet. Aber gerade in den kritischen Zeiten nach 1976 und nach 1980, in denen eine solche Rolle dringend erwünscht gewesen wäre, verfügten die Stabschefs nicht über diese Qualifikation. Weder James Baker noch Donald Regan sorgten dafür, daß Präsident Reagan die ewigen Querelen zwischen dem außenpolitisch und qualitativ denkenden Außenminister Shultz und dem militärisch-quantitativ denkenden Verteidigungsminister Weinberger durch eigene klare Entscheidungen beendete.
    Seit langem haben sich die europäischen Verbündeten der USA daran gewöhnt, die außenpolitischen Ankündigungen in den Wahlkampfprogrammen der Präsidentschaftskandidaten nicht sonderlich ernst zu nehmen. Sie haben sich aber auch daran gewöhnen müssen, nur selten im Vorwege zu wissen, was der gewählte Präsident
tatsächlich tun wird. Sie sind sich nicht sicher, ob ihre Gespräche mit den Außenministern, den Verteidigungsministern, den Sicherheitsberatern, den Handelsdelegierten oder den persönlichen Beauftragten eines Präsidenten wirklich vollen Aufschluß über Amerikas Politik geben. Sie sind sich unsicher, wie lange ein Urteil gelten wird. Sie beobachten den zunehmenden Populismus der aktuellen amerikanischen Außenpolitik und die zunehmende Einwirkung von Senatoren, Abgeordneten und deren Mitarbeiterstäben mit Unbehagen. Den Regierungen der Bündnispartner erscheint Washington heute erheblich weniger berechenbar als in der Zeit von Eisenhower bis Ford. Eine größere Vorsicht, sich zu exponieren, ist die Konsequenz. Man fürchtet den nächsten Kurswechsel; denn man weiß nicht, wann er eintritt und in welche Richtung er führen wird.
    Wechselnde

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