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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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militärischen Konzeption, sondern darüber hinaus zu einer neuen Gesamtstrategie der USA und des Westens. Von jetzt an kam es darauf an, daß beide Weltmächte in gleicher Weise begriffen, daß ihre beiderseitige Fähigkeit, sich gegenseitig zu vernichten, zu freiwilliger, möglichst sogar zu einer vereinbarten gemeinsamen Beschränkung ihrer gesamtstrategischen Zielsetzungen und Handlungen führen müsse. Aus dieser Einsicht entwickelte sich schrittweise die dritte Phase der amerikanisch-westlichen Gesamtstrategie gegenüber der Sowjetunion. Gemeinhin, wenn auch unzureichend, wird sie mit dem Schlagwort Entspannung (»détente«) bezeichnet. Große Spannungen blieben zwar bestehen, und der Rüstungswettkampf ging weiter. Aber zum ersten Male kam es in Ansätzen zu vereinbarter Rüstungsbegrenzung und ab Ende der sechziger Jahre zu Erfolgen.
    Die USA hatten zunächst Schwierigkeiten, ihren europäischen Verbündeten die Notwendigkeit plausibel zu machen, die scheinbar bequeme Strategie der massiven nuklearen Vergeltung aufzugeben und sie durch eine Strategie der »flexiblen Antwort« zu ersetzen. McNamara brauchte fünf Jahre, bis er endlich 1967 seine europäischen
Verteidigungsministerkollegen überzeugt hatte, daß man in Zukunft nicht mehr in jedem Falle sogleich zum großen nuklearen Knüppel greifen dürfe. Im gleichen Jahr zog das Atlantische Bündnis die Konsequenz durch den Harmel-Beschluß: Sicherheit vor der sowjetischen Bedrohung sowohl durch eigene Verteidigungsanstrengung als auch durch beiderseitige Rüstungsbegrenzung. Mit anderen Worten: man war wie niemals seit 1948 zur Zusammenarbeit mit Moskau bereit. Natürlich war diese Politik durch den Bruch zwischen Beijing und Moskau erleichtert worden, der Anfang der sechziger Jahre eine weltpolitische Bedeutung erlangt hatte.
    Auch in dieser dritten Phase der Gesamtstrategie waren weder die USA noch die anderen Westmächte bereit, eine sowjetische Expansion hinzunehmen oder den Sowjets ein militärisches Übergewicht zuzugestehen. Gleichwohl brachten Washington, London und Bonn eine ganze Serie von Verträgen mit Moskau zustande, die das Gleichgewicht stabilisierten. Zumindest am Viermächteabkommen über Berlin hatte auch Paris mitgewirkt. Dieser Prozeß wurde weder durch die westliche Empörung über die gewaltsame Zerschlagung des Prager Frühlings im Jahre 1968 noch durch das traurige Ergebnis der amerikanischen Intervention in Vietnam ernsthaft gefährdet. Auch die Sowjetunion nahm den bis tief in die siebziger Jahre andauernden Vietnamkrieg nicht zum Vorwand, sich Verhandlungen und Verträgen zu verweigern; auch sie hatte verstanden, daß ihre eigenen Sicherheitsinteressen eine begrenzte Kooperation mit dem Westen geboten.
    Diese dritte Phase wurde zur bisher fruchtbarsten und friedlichsten Periode in der Koexistenz der beiden Weltmächte. SALT I und ABM-Vertrag waren Durchbrüche, die noch ein Jahrzehnt vorher unmöglich erschienen wären. Das gleiche galt für das Geflecht von Verträgen, das aus der deutschen Ostpolitik erwuchs. Der äußere Höhepunkt war die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die 1975 in Helsinki stattfand. Helsinki demonstrierte aber auch den Zuwachs an Handlungsfreiheit, den die europäischen Staaten inzwischen gewonnen hatten; schließlich waren ja die Grundprinzipien sowohl der Harmel-Doktrin als auch der KSZE von den Europäern entwickelt worden,
die begannen, ihre eigenen Interessen zu verfolgen. Natürlich war der Handlungsspielraum der Staaten im Osten Europas verhältnismäßig gering, aber er war doch größer als vorher oder nachher. Die Regierungen auf beiden Seiten Europas hatten – fast ohne Ausnahme – ein großes eigenes Interesse an der Aufrechterhaltung und Fortentwicklung dieser Periode partieller Zusammenarbeit und der ihr zugrundeliegenden gesamtstrategischen Konzeption.
    Dennoch brach diese Politik im Laufe der späten siebziger Jahre schrittweise auseinander; schon vor dem Amtsantritt Reagans schien sie an ihr Ende gekommen zu sein. Das lag zum Teil am beunruhigenden Verhalten der Sowjetunion, zum Teil aber auch an den schwankenden Stimmungen und wechselnden Zielsetzungen in den USA. Was die Sowjetunion anlangt, so schien es zu einem schwerwiegenden Mißverständnis des Kremls gekommen zu sein. Nachdem man sich mit dem Westen und besonders mit den USA über den Nichtverbreitungsvertrag für nukleare Waffen (Non-Proliferation Treaty, NPT), über das Viermächteabkommen

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