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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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anlangte, so waren sie (mit der bereits erwähnten Ausnahme) immer auf der Linie ihrer Staatsführung geblieben, sie hatten weder zurückgesteckt, noch waren sie
darüber hinausgegangen. Ogarkow war sozusagen die Eingreifreserve, die Hauptrolle lag bei Ustinow. Bei beiden hatte ich das Gefühl, daß sie die doch vergleichsweise kleine Bundeswehr sehr ernst nahmen; freimütig offenbarten sie ihre guten Kenntnisse über die deutschen Streitkräfte und gaben klar zu erkennen, wie sehr sie sich mit ihnen beschäftigten.
    An Ustinows Friedenswillen zu zweifeln, hatte ich keinen Anlaß. Ebenso klar wurde mir allerdings, daß er – und Ogarkow vielleicht in noch ausgeprägterer Weise – eine materielle, auch quantitative Überlegenheit der Sowjetunion für die beste Friedenssicherung hielt. Daß eine derart enorme Überlegenheit den Deutschen unheimlich sein mußte, hatte offenbar bisher keine große Rolle in ihrem Denken gespielt. Als ich einige der deutschen Städte aufzählte, die sie mit ihren SS-20-Raketen vernichten könnten, schienen sie jedoch ein gewisses Maß von Verständnis für mich und meine Schlußfolgerungen zu haben.
    Diese beiden Männer hatten als Steuerleute der gesamten sowjetischen Militärmaschinerie nach westlichen Schätzungen jahrelang 12 bis 14 Prozent des sowjetischen Bruttosozialprodukts für die Streitkräfte zur Verfügung gehabt – ein ungeheurer Anteil, wenn man ihn mit den weniger als 7 Prozent des amerikanischen oder mit den durchschnittlich weniger als 4 Prozent des Bruttosozialprodukts der westeuropäischen Staaten verglich. Mit diesem quantitativ hohen Anteil am Kuchen der sowjetischen Volkswirtschaft hatten sie einen auch qualitativ besonders guten Schnitt gemacht. Die Armee hatte nicht etwa ein senkrecht geschnittenes Stück der Torte erhalten, sondern vielmehr einen horizontalen Schnitt, das heißt, deren oberste, besonders kalorienreiche Schicht. Den mageren Tortenboden hatte man Kossygin und Tichonow für die zivile Volkswirtschaft übriggelassen.
    Ich weiß nicht, in welchem Maße sich die beiden Marschälle für den Einmarsch in Afghanistan stark gemacht und ob sie begriffen hatten, wie sehr das afghanische Abenteuer ihrem Ansehen in der ganzen Welt und besonders in den USA geschadet hat. An der Forcierung der Raketenrüstung waren sie jedenfalls beide zentral beteiligt, und offenbar fehlte ihnen ganz und gar der
politische Instinkt für die Reaktion der davon bedrohten Völker und Staaten.
    Es wäre zu einfach, sie Militaristen zu nennen. Sie waren lediglich rücksichtslos in der Verfolgung der sowjetischen Sicherheitsinteressen und schienen ehrlich erstaunt, daß die Welt deshalb von einem sowjetischen Expansionsstreben sprach. Ebenso wie Breschnew selbst schienen sie aufrichtig besorgt um die Bewahrung ihres Friedens; aber sie begriffen nicht, daß sie selber es waren, die den Frieden gefährdeten, ohne es zu wollen. Sie waren typische Russen.
    Katarakt der Gerontokratie
    Breschnew habe ich danach nur noch einmal gesehen, nämlich Ende November 1981 während eines Arbeitsbesuches in Bonn. Das war alles in allem meine siebente persönliche Begegnung mit ihm – angefangen bei dem Abendessen auf dem Venusberg zu Willy Brandts Kanzlerzeit über meine beiden Besuche in Moskau und Breschnews Gegenbesuch 1978 sowie die Treffen in Helsinki und in Belgrad, wo wir uns beim Begräbnis Titos zum Gespräch getroffen hatten.
    Der alte Mann hatte sich in seinen Vorstellungen nicht sehr verändert; aber jetzt war er wirklich krank und hinfällig. Er klammerte sich an seine selbstgestellte Aufgabe, den in seiner Zeit erheblich vergrößerten Machtbereich des sowjetischen Imperiums durch Vereinbarungen mit dem Westen und durch Entspannung zu konsolidieren. Einer seiner Mitarbeiter sagte mir: Breschnew will seinem Nachfolger nicht allzuviel ungelöste Probleme hinterlassen. Aber gerade so ist es dann doch gekommen. Vor allem die großen ökonomischen und außenpolitischen Probleme seines Landes, die er nicht lösen konnte, gingen auf seine Nachfolger über.
    Im Laufe der vielen Begegnungen hatte er persönliches Vertrauen zu meiner Offenheit gefaßt, wenngleich er meine Sicherheitspolitik keineswegs akzeptierte. Jetzt plagte ihn sein Unvermögen, Ronald Reagans Absichten und Handeln zu verstehen.
Offensichtlich hoffte er im November 1981, von mir einen Schlüssel zum Verständnis des neuen amerikanischen Präsidenten zu erhalten. Inzwischen war er in der Führung der Gespräche argumentativ

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