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Menschen und Maechte

Menschen und Maechte

Titel: Menschen und Maechte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helmut Schmidt
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risikoscheuen Vorgängern kann zwar zu mehr außen- und sicherheitspolitischer Beweglichkeit führen – sie kann aber auch eine höhere Risikobereitschaft mit sich bringen. Es scheint mir unklug, unsere eigene Politik auf ein tatsächliches Ende des russisch-sowjetischen Expansionismus zu gründen. Jedenfalls wird man auch eine Wiederaufnahme von Breschnews Strategie eines Tages für möglich halten müssen – wenn auch vielleicht mit anderen Mitteln.
    Wenn man vorbereitet sein will, empfiehlt sich deshalb das Studium der Ära Breschnew. Breschnew ist dem Volke nicht als Prophet entrückt wie Lenin. Er ist nicht verhaßt, wie Stalin es weitgehend war. Er wird auch kaum lächerlich gemacht werden wie Chruschtschow mit seinem unsteten, cholerischen Temperament. Für Betrachter außerhalb der Sowjetunion mag er über kurz oder lang durchaus zum Archetypus eines sowjetischen Führers werden; dies wäre allerdings keineswegs im Sinne Gorbatschows.
    Neu ins Amt kommende Regierungen neigen oft dazu, mit einer stark negativ gefärbten Eröffnungsbilanz anzutreten und die Schuld dafür den Vorgängern zuzuschieben; so haben sich Carter und Reagan verhalten, so Kohl, so auch Gorbatschow gegenüber Breschnew. Je düsterer man den Vorgänger und die mit seinem Namen verbundene Ära abbildet, um so größer ist die Chance, dem eigenen Versprechen eines Aufbruchs zu neuen Ufern Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Später, aus größerem Abstand betrachtet, erscheinen dann die Zäsuren oft weit weniger einschneidend. Jedenfalls betreffen sie in den meisten Fällen mehr die Innenpolitik als die Außenpolitik des jeweiligen Staates; häufig ist aber auch der innenpolitische Szenenwechsel im politischen Bewußtsein der Zeit einfach nur stärker ausgeprägt. Bei der vermeintlich neuen Wirklichkeit staatlicher, gesellschaftlicher und ökonomischer Prozesse handelt es sich oft weitgehend um eine Illusion; diese kann bisweilen allerdings durchaus nützlich sein. Deng Xiaoping hat gewiß eine tiefgreifende Erneuerung in China ausgelöst, wobei er übrigens das Andenken Mao Zedongs weitgehend intakt ließ und sich
bei der negativen Bilanzierung des übernommenen Erbes stark auf die »Viererbande« und ihre – mit Recht angeklagten – Verbrechen und Fehler beschränkte. Ob Michail Gorbatschow eine der Kategorie nach vergleichbare Veränderung in der Sowjetunion erreichen wird, ist heute noch nicht erkennbar.
    Wenn man sich heute mit Sowjetrussen unterhält, zum Beispiel mit alten Bekannten, oder wenn man die Reden Gorbatschows oder die parteiamtlichen und Regierungsverlautbarungen auf sich wirken läßt, so fällt auf, daß Andropow und Tschernenko nicht zu denjenigen gehören, die für die von Gorbatschow diagnostizierte Erstarrung verantwortlich gemacht werden. Was Andropow betrifft, so ist dies ohne weiteres verständlich, denn er wollte den Generationswechsel in den sowjetischen Führungsschichten voranbringen; so hat er zum Beispiel Gorbatschow schon gefördert, als dieser noch recht jung war. Ich halte es für wahrscheinlich, daß Andropow – wäre ihm eine längere Lebens- und Amtszeit beschieden gewesen – manche der Reformen angepackt hätte, die jetzt von Gorbatschow betrieben werden. Schon aus diesen Gründen hat Gorbatschow kein Interesse an der Herabsetzung seines Andenkens. Im Westen wird man sich wahrscheinlich noch lange an den zu Andropows Amtszeit im Spätsommer 1983 erfolgten Abschuß eines koreanischen Verkehrsflugzeuges über sowjetischem Hoheitsgebiet und an das anschließende ratlose Verhalten Moskaus erinnern; ansonsten hat Andropow in der Außenpolitik keine wesentlichen Spuren hinterlassen; dafür war seine Amtszeit zu kurz.
    Für Tschernenko gilt das gleiche. Innenpolitisch bedeutet seine Amtszeit von Februar 1984 bis März 1985 wahrscheinlich nur eine kurze, postume Verlängerung der Breschnew-Ara; Breschnew selbst hatte ihn für seine Nachfolge vorgesehen, vermutlich weil er ihn als kongenial empfand. Mit Recht ist heute in Moskau von Tschernenko keine Rede mehr.
    Wohl aber ist von Breschnew die Rede, der über fast zwei Jahrzehnte an der Spitze des Politbüros und der Sowjetunion gestanden hat. Dabei hat sich die Kritik – soweit ich sehe – bisher weniger der ersten als vielmehr der zweiten Hälfte der Breschnew-Ära zugewandt. Sie richtet sich einstweilen überwiegend auf die innenpolitische
Entwicklung unter Breschnew, nicht auf die Außenpolitik. Zwar wird die Rüstungskontrolldiplomatie Breschnews und

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