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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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tun?
    Es war natürlich nicht gesagt, dass mit Henrik und Björn dasselbe passiert war wie mit Maja. Sie waren vielleicht einfach nur … weggefahren. Waren woanders hingefahren und hatten ein neues Leben begonnen.
    Und waren zurückgekommen, ohne älter geworden zu sein?
    Anders blieb am Wohnzimmerfester stehen und schaute zu Gåvastens blinkendem Leuchtturm in der Ferne hinaus. Ihm stiegen Tränen in die Augen.
    Ohne älter geworden zu sein …
    Er sah Majas kleine Hände, wenn sie nach der Saugflasche mit Saft griffen, ihre dünnen Finger, die den Rand eines Tino-Tatz-Comics umfassten, wenn sie auf dem Rücken in ihrem Bett lag und las. Ihre Füße lugten unter der Decke heraus. Sechs Jahre alt.
    Anders starrte in die große Dunkelheit mit ihrer einen, blinkenden Lichtnadel hinaus. Der Wein war ihm zu Kopf gestiegen, und das Licht schwankte und glitt übers Meer, und er sah Maja in ihrem roten Schneeanzug. Sie leuchtete in der Dunkelheit, und sie ging übers Wasser. Der kleine Körper, die weiche Haut, in Biber-Nylon gehüllte Muskeln. Ein roter Fleck, der sich näherte, jedoch wieder auflöste, wenn er den Blick auf ihn zu richten versuchte.
    Er flüsterte: »Wo bist du? Wo bist du?«
    Keine Antwort. Nur das Gluckern der See gegen die Felsen und Gåvastens einzige, laufend wiederholte Botschaft, die Botschaft aller Leuchttürme: Hier bin ich, hier bin ich. Pass auf, pass auf.
    Anders stand am Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus, bis ihn der Luftzug durch die Fensterritzen frösteln ließ und er in die Küche zurückkehrte.
    Elin lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch, ihr Kopf ruhte auf den Armen. Er rüttelte an ihrer Schulter, und sie schaute verschlafen hoch. »Du legst dich am besten hin.« Er machte eine Geste zum Schlafzimmer hin. »Nimm das große Bett.«
    Elin verschwand im Schlafzimmer, und Anders blieb am Küchentisch sitzen, trank Wein und rauchte Zigaretten. Er starrte den Text in der Tischplatte an.
    Trag mich .
    Anders nickte betrunken, faltete die Hände wie zum Gebet und flüsterte: »Mach ich. Mach ich. Aber wo soll ich dich abholen? Wo bist du?«
    Etwa eine halbe Stunde war vergangen, als Elin in eine Decke gehüllt aus dem Schlafzimmer kam. Ihre Finger scharrten nervös über den Stoff des Bettüberzugs. Anders schloss ein Auge, um sie klar sehen zu können. Sie sah so erbärmlich aus, wie es körperlich überhaupt möglich war.
    »Kannst du dich nicht auch hinlegen?«, fragte sie. »Ich hab so wahnsinnige Angst.«
    Anders begleitete sie ins Schlafzimmer und legte sich neben sie auf die Decke. Ihre Hand kam angekrochen und suchte seine.
    Was spielt das noch für eine Rolle. Was spielt das noch für eine verdammte Rolle?
    Er nahm ihre Hand und drückte sie, als wollte er auf die Art sagen, dass alles okay war und sie beruhigt einschlafen konnte. Als er loszulassen versuchte, wurde ihr Griff fester, und er gab es auf. Das Licht des Leuchtturms auf Norrudden huschte durchs Zimmer, blitzte an der gegenüberliegenden Wand auf und ließ das Profil von Elins platter Nase hervortreten. Er lag neben ihr und betrachtete es. Als das Licht ungefähr zehn Mal vorbeigezogen war, fragte er erneut: »Warum machst du das mit den Operationen?«
    »Ich muss.«
    Anders blinzelte und spürte, dass er allmählich schläfrig wurde. Er konnte nicht mehr richtig denken, aber der Ansatz zu einer Theorie kam ihm in den Sinn, und er fragte: »Ist es … eine Strafe?«
    Elin schwieg lange, und er rechnete mit keiner Antwort mehr.
    Das Leuchtturmlicht war viele Male vorbeigehuscht, als sie schließlich »Das ist es wohl« sagte, seine Hand losließ und sich auf die Seite drehte.
    Anders blieb liegen und dachte an Schuld und Sühne, das Gleichgewicht, das Bestandteil der Welt und der menschlichen Seele sein mochte. Er kam zu keinem Ergebnis, und sein Gedankengang begann bereits, sich in unzusammenhängende Bilder aufzulösen, als er zu sich selbst zurückkehrte und an Elins Atemzügen hörte, dass sie schlief. Daraufhin stand er auf, zog sich aus und legte sich in Majas Bett.
    Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Vermutlich war er ein paar Minuten eingedöst, als er in dem großen Bett lag, und jetzt war er hellwach. Er zählte Leuchtturmblinker, war bis zweihundertzwanzig gekommen und hatte überlegt, die Bettlampe anzumachen und ein Tino Tatz zu lesen, als er sah, dass Elin aufstand.
    Er dachte, dass sie auf die Toilette wollte. Aber mit ihren Bewegungen stimmte etwas nicht. Sie ging auf sein Bett zu, ohne

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