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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Anna-Greta stand ungerührt neben ihm und leuchtete den Weg hinunter. Andere Menschen waren nicht in der Nähe.
    »Wenn ich dir nun sage«, setzte Anna-Greta an, »dass ich dir nichts erzählt habe, weil es für dich besser so gewesen ist.«
    Simon schnaubte. »Wie lange sind wir jetzt zusammen? Fast fünfzig Jahre? Wie hast du das nur tun können … gibt es noch mehr, was du mir nicht erzählt hast?«
    »Ja.«
    Dieses Bekenntnis hätte ihn erstaunen müssen, aber Simon kannte Anna-Greta. Sie sagte, wie es war, auch wenn es unpassend erschien. Das machte das Ganze doch so inakzeptabel: dass er sie im Grunde vielleicht überhaupt nicht gekannt hatte.
    »Dann werd ich dir mal was sagen«, erklärte Simon. »Ich bin ja mal verheiratet gewesen, und weißt du, was Marita über ihre Drogensucht gesagt hat? Sie erzähle mir nichts davon, weil es besser so für mich sei. Man könnte also sagen, dass ich auf dieses Argument ein bisschen allergisch reagiere.«
    »Das ist nicht das Gleiche.«
    »Ach wirklich, ich denke aber schon. Und es fällt mir verdammt schwer, das zu akzeptieren. Ich bin mir nicht sicher, ob ich noch mit dir zusammen sein will, Anna-Greta. Ich glaube nicht, dass ich das will.«
    Simon hatte vorgebeugt, die Hände auf die Oberschenkel gestemmt, gestanden. Jetzt stieß er sich ab, sodass er wieder aufrecht stand, und ging in der Dunkelheit davon. Anna-Gretas Taschenlampe folgte ihm nicht. Er hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch und sah nicht, wohin er trat, aber jetzt war es heraus. Jetzt musste er die Konsequenzen tragen, wie auch immer sie aussehen mochten. Er konnte nicht mit einem Menschen zusammenleben, der so log.
    Im Wald war es stockfinster, und er musste sich vorsichtig vorantasten, um nicht wieder in den Straßengraben zu fallen. Der Lichtkegel der Taschenlampe saß noch auf seiner Netzhaut, und er blieb stehen, um abzuwarten, dass er verschwand. Er blickte zurück und sah, dass die Taschenlampe auf der Erde lag und Anna-Gretas Beine beleuchtete, die neben der Lampe lagen.
    Simon öffnete den Mund, um etwas zu rufen, aber es kam nichts Passendes heraus.
    Das ist nicht fair. Das ist ein Spiel mit gezinkten Karten.
    Er biss die Zähne zusammen. Er hatte klar und deutlich gesagt, wie die Dinge lagen, was er empfand. Und dann machte sie so etwas. Das war ein ganz mieser Trick, das war … Simon blinzelte zu der Gestalt auf der Erde hinüber und rieb die Hände aneinander.
    Es wird ihr ja wohl hoffentlich nicht wirklich etwas passiert sein?
    Anna-Greta war kerngesund und konnte doch keine Herzattacke oder Gehirnblutung bekommen haben, nur weil er sie zurückgewiesen hatte. Oder etwa doch? Simon schaute die Straße zum alten Dorf hinunter. Wenn jetzt dieses Moped zurückkam. Sie konnte da nicht so liegen bleiben.
    Warum liegt sie da so?
    Mit Bleigeschmack im Mund eilte Simon geführt vom Licht der Taschenlampe zu Anna-Greta. Als er zwei Meter von ihr entfernt war, sah er, dass sie lebte, denn ihr Körper schüttelte sich. Sie weinte. Simon stellte sich neben sie.
    »Anna-Greta, hör auf. Wir sind doch keine Teenager mehr. Tu das nicht.«
    Anna-Greta schluchzte und zog sich zu einem festeren Bündel zusammen. Simon spürte seine eigenen Augen brennen, weil Tränen aus ihnen flossen, und strich sie ärgerlich fort.
    Nicht fair .
    Er ertrug es nicht, sie so zu sehen, diese eigensinnige und starke Frau, die er so lange geliebt hatte, ertrug es nicht, sie als ein hilfloses, schluchzendes Bündel auf einer Straße im Wald zu sehen. Er hätte es nie für möglich gehalten, dass etwas aus seinem Mund solch eine Reaktion auslösen würde. Er bekam einen Kloß im Hals, und die Tränen liefen herab, ohne dass er sich noch die Mühe machte, sie fortzuwischen.
    »Komm jetzt«, sagte er. »Komm jetzt, Anna-Greta. Steh auf.«
    Zwischen den Schluchzern sagte Anna-Greta: »Du darfst. Das. Nicht sagen. Du darfst. Nicht sagen. Dass du nicht. Mit mir. Zusammen. Sein willst.«
    »Okay«, erwiderte Simon. »Ich werde es nicht wieder tun. Komm jetzt.«
    Er streckte seine Hand aus, um ihr aufzuhelfen, aber sie sah sie nicht. Simon glaubte nicht, dass er es schaffen würde, sich zu bücken und sie aufzurichten, denn dann würde es schlimmstenfalls so enden, dass sie beide auf der Erde lagen.
    Er hatte niemals auch nur ansatzweise etwas Ähnliches erlebt. Nicht mit Anna-Greta. Sie konnte außer sich geraten, wenn sie sich mal stritten, und eine Zeit lang weinen, wenn es vorbei war, aber schiere Verzweiflung dieser Art hatte er

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