Menschenhafen
möglicherweise übersensibel, aber er hatte wahrlich genug davon, Dinge, die auf Domarö passierten, als isolierte Vorfälle ohne inneren Zusammenhang zu sehen, war getäuscht worden –
Ja. Getäuscht.
Lange genug getäuscht worden. Es platschte und saugte um seine Füße, als er durch den rußigen Morast watete. Die Feuerwehr hatte gesagt, es höre sich zweifellos verdächtig an, wie das Feuer ausgebrochen war, aber es sei nicht ihre Aufgabe, dies näher zu untersuchen. Wenn es hell wurde, würde die Polizei den Fall übernehmen.
Obwohl demnach die Gefahr bestand, dass er wichtige Spuren zerstörte, bewegte sich Simon weiter durch den Matsch, bis er dünner wurde und zwei Meter vor dem Brunnen aufhörte. Dorthin war er unbewusst unterwegs gewesen.
Es war ein alter Brunnen. Ein meterhoher, kreisrunder Wall aus gemauerten Steinen um den Brunnenschacht, der von einer Holzluke gekrönt wurde. Die ältere Konstruktion mit Winde, Kette und Eimer hing noch als Dekoration. Ein dicker Plastikschlauch führte durch ein Loch in der Luke hinauf und war vermutlich mit einer Pumpe im Haus verbunden gewesen. Jetzt war der Schlauch einige Meter vom Brunnen entfernt verbrannt.
Simon hob die Luke an und blickte in die Dunkelheit hinab.
Was mache ich hier?
Er wusste es nicht. Ebenso wenig, wie er wusste, warum er überhaupt hierher gegangen war. Da war etwas, das ihn anzog. Er schloss die Hand um die Streichholzschachtel in seiner Tasche und horchte in sich hinein.
Nichts. Da ist nichts.
Doch, er spürte etwas, bekam aber nicht zu fassen, was es war. Es war nur eine Ahnung, ein Hauch von etwas Verschwundenem, Ringe auf Wasser, nachdem ein Fisch mit dem Schwanz geschlagen hatte, während der Fisch selbst schon längst fort war.
Trotzdem hakte er den Eimer los und ließ ihn mithilfe der Kette in den Brunnen hinab. Nach etwa fünf Metern erreichte er in der Tiefe die Wasseroberfläche. Als er ihn wieder hochzog, war er halb voll mit klarem Wasser. Er tauchte die hohle Hand hinein und trank einen Schluck, nachdem er die Wunde in seiner Hand gesäubert hatte, die bereits verheilte.
Salz.
Nicht ungewöhnlich bei Brunnen, die so nah am Meer waren, dass eine gewisse Menge Salzwasser eindrang. Wäre es nach ihm gegangen, hätten sie nicht hier gebohrt, aber das ließ sich nun nicht mehr ändern. Er hängte den Eimer an seinen Platz zurück. Seine Ahnung wurde weder stärker noch schwächer, war einfach da wie eine Duftspur, und er wusste nicht, was es war.
Er trat einen Schritt zurück und betrachtete den Brunnen.
Schade .
Schade, dass ein so schöner, alter Brunnen kein Haus mehr haben würde, zu dem er gehörte. Simon machte kehrt, um sich nochmals die Verwüstungen anzusehen, und erblickte einen Menschen, der dort stand, wo er selbst vor Kurzem noch gestanden hatte. Das Sternenlicht reichte nicht aus, um zu sehen, wer es war, sodass er den Arm zum Gruß erhob. Sein Gruß wurde erwidert.
Er fühlte sich ein wenig ertappt. Während er sich einen Weg durch den Morast bahnte, überlegte er, sein Verhalten damit zu erklären, dass er Durst bekommen hatte.
Als er näher kam, sah er, dass es Anna-Greta war, die ihn erwartete. Sein Körper versteifte sich, sein entschuldigender Gesichtsausdruck wurde abweisend, und er legte die letzten Meter durch den Aschebrei mit größtmöglicher Würde zurück.
Anna-Greta schien amüsiert. »Was tust du da?«
»Nichts. Ich hab nur Durst bekommen.«
Anna-Greta zeigte zu dem öffentlichen Wasserhahn, der zehn Meter entfernt an der Wegkreuzung stand. »Wäre es nicht einfacher gewesen …«
»Hab nicht daran gedacht«, erwiderte Simon und ging an ihr vorbei. Er machte sich mit möglichst schnellen Schritten auf den Heimweg, aber Anna-Greta war bedeutend besser zu Fuß als er und hielt mühelos mit ihm Schritt. Sie trat an seine Seite und schaltete ihre Taschenlampe ein, um ihnen beiden zu leuchten.
»Bist du wütend?«, fragte sie.
»Nein. Eher enttäuscht.«
»Und warum?«
»Was glaubst du?«
Sie kamen auf den Weg zwischen den Fichten, und Simon musste seine Schritte verlangsamen. Sein Herz wollte bei der Flucht vor Anna-Greta nicht mitspielen. Das körperliche Herz, wohlgemerkt. Bei dem anderen wusste er nicht recht, woran er mit ihm war. Aber das war ja auch einmal eine Erkenntnis auf der Schwelle zum Tod: Selbst wenn er wollte, konnte er vor Anna-Greta nicht davonlaufen. Dafür war sie einfach zu schnell.
Nach hundert Metern Weg im Wald blieb er stehen, um zu verschnaufen.
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