Menschenhafen
warf einen Blick auf das dunkle Meer hinaus. »Obwohl es vermutlich schon so weit gekommen ist. Dass du nicht weggehen darfst.«
Simon legte den Kopf schief. »Wie gesagt. Ich habe gar nicht vor, wegzugehen. Du brauchst mir keine Angst einzujagen, damit ich bleibe.«
Anna-Greta lächelte matt. »Es sucht uns auf. Wenn wir diese Insel zu verlassen versuchen, ist die Gefahr groß, dass es uns aufsucht.«
»Es«, unterbrach Simon sie. »Was meinst du mit es?«
»Das Meer. Es spürt uns auf und holt uns. Ganz gleich, wo wir sind.«
Simon schüttelte misstrauisch den Kopf. »Du fährst doch oft nach Norrtälje, manchmal auch nach Stockholm. Du und ich nehmen die Finnlandfähre. Das ist doch bisher immer gut gegangen.«
»Mm. Aber ein paar Mal wolltest du größere Reisen machen. Nach Mallorca und so. Und ich habe immer Nein gesagt, weil … dann könnte es glauben, dass ich zu fliehen versuche.«
Anna-Greta leckte an ihrem Zeigefinger, zog ihn im Kreis über die Glaskante und erzeugte einen Laut. Ein einsamer, klagender Ton stieg von dem Glas auf und breitete sich wie eine Geisterstimme im Raum aus. Ein perfekter Ton, so rein und klar, dass er sich selbst zu verstärken schien, indem er die Luft als Resonanzkörper nutzte. Simon legte die Hand auf Anna-Gretas Finger, um ihn verstummen zu lassen.
»Das klingt doch völlig verrückt«, sagte er. »Du meinst, das Meer geht an Land und spürt uns auf? Das kann doch nicht sein.«
»Das braucht es auch nicht«, erwiderte Anna-Greta. »Es ist überall. Es steht mit allem in Verbindung. Das Meer. Das Wasser. Es muss nirgendwohin gehen. Es ist schon überall.«
Simon trank einen größeren Schluck Wein. Er dachte an das zurück, was er am Vortag erlebt hatte. Als er mit Spiritus in der Hand gesehen hatte, wie das Wasser alles durchströmte und alles im Grunde aus Wasser bestand. Nun vergrößerte er in Gedanken den Blickwinkel und sah alle Meere über Flüsse, Bäche, Ströme miteinander verbunden. Die Wasseradern im Fels, die Sümpfe und die Pfützen. Wasser, Wasser überall.
So weit ist das schon richtig, aber …
»Dann frage ich mich, was du mit ›holen‹ meinst. Wie ›holt‹ es euch?«
»Wir ertrinken. An den unwahrscheinlichsten Orten. In einem kleinen Bach. In einer Wasserpfütze. In einem Waschbecken.« Simon runzelte die Stirn und wollte die Frage stellen, die sich daraus ergab, aber Anna-Greta kam ihm zuvor: »Nein. Ich habe keine Ahnung, wie das funktioniert. Das weiß niemand. Aber die Menschen, die … zu Domarö gehören und die Insel zu verlassen versuchen … früher oder später werden sie ertrunken aufgefunden. Jedenfalls meistens. Wer hier bleibt, überlebt. Jedenfalls meistens.«
Simon legte seine Hand auf Anna-Gretas, die noch immer auf dem Rand ihres Glases ruhte. »Aber das klingt doch vollkommen …«
»Es ist vollkommen egal, wie es klingt. Es ist so. Das wissen wir. Und jetzt weißt du es auch. Um ein Wort zu benutzen, das heutzutage keiner mehr benutzt, wir sind verdammt. Und wir leben damit.«
Simon verschränkte die Arme vor der Brust und ließ sich gegen die Rückenlehne der Couch zurückfallen. Das war gelinde gesagt ziemlich viel auf einmal. Die Antworten, die er bekommen hatte, warfen neue Fragen auf, und er spürte, dass er an diesem Abend nicht viel mehr verarbeiten können würde. Das bisschen Wein, das er getrunken hatte, war genug gewesen, um ihn, der nichts mehr vertrug, schläfrig werden zu lassen.
Er schloss die Augen und versuchte, alles vor sich zu sehen. Die Fischer vor langer Zeit, die den Pakt mit dem Meer geschlossen hatten, der bestehen blieb und die Zeiten überdauerte, der bestehen blieb und sich ausgebreitet hatte wie das Meer selbst, der in alle Spalten eingesickert war.
Eingesickert …
Er schnalzte mit der Zunge, als er an das Wasser dachte, das er aus dem Brunnen neben dem niedergebrannten Haus getrunken hatte. Die schwache Ahnung von Salz, das Meer, das eingedrungen war. Der Geschmack war inzwischen fort, ersetzt von der beißenden Süße des Weins. Ohne die Augen zu öffnen, fragte Simon: »Gehöre ich jetzt auch zu Domarö? Bin ich auch … verdammt?«
»Wahrscheinlich. Aber wissen kannst du das nur selbst.«
»Wie merke ich es?«
»Du merkst es.«
Simon nickte langsam und lotete die Tiefen in sich aus, ließ das Senkblei durch das Dunkle, Unaussprechliche sinken, alles, was er wusste, ohne es in Worte fassen zu können, und stellte fest, dass er den Grund früher erreichte als erwartet.
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