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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Tür hinter sich ab. Trotz einer Müdigkeit, die ihm viel zu groß erschien, um Platz in seinem hageren Körper zu finden, setzte seine Angst erneut Adrenalin frei, als er durch den Flur schlich und den Stiel der Axt umklammerte.
    Bloß nicht mehr , dachte er. Nicht noch mehr.
    Der Lichtstrahl der Taschenlampe ließ die schmucklosen Küchenmöbel schicksalsschwer aussehen, erschuf Schatten mit unangenehmen Formen.
    »Elin«, flüsterte er. »Elin, bist du hier?«
    Der Küchenfußboden knarrte unter seinen Füßen, und er hielt inne, lauschte. Der Feueralarm war im Haus weniger deutlich zu hören, übertönte aber dennoch alle kleinen Geräusche, die auf die Anwesenheit eines anderen Menschen schließen lassen mochten.
    Er betrat das Wohnzimmer. Der offene Kamin strahlte immer noch Wärme ab, und er suchte mit der Lampe alles ab, ohne etwas Auffälliges feststellen zu können, außer dass die Schlafzimmertür geschlossen war. Er leckte sich die Lippen. Seine Zunge war noch steif vom Wermut, und der Geschmack schien so tief ins Fleisch des Gaumens eingedrungen zu sein, dass man ihn niemals ausspülen können würde.
    Als er die Klinke herabdrückte, war die Tür von innen verbarrikadiert, allerdings nur nachlässig, sodass der davorgestellte Stuhl umkippte, als er drückte.
    Elin saß ans Kopfende gelehnt im Bett. Sie hatte die Decke so um sich geschlungen, dass nur noch ihr Kopf herauslugte. Das Laken am Fußende des Betts war fleckig von verschmierten Blutstriemen und Lehmklumpen.
    »Elin?«
    Ihre Augen starrten ihn völlig verängstigt an. Er wagte es nicht, den Raum zu betreten oder Licht zu machen, weil er nicht wusste, wie sie darauf reagieren würde. Er wurde sich der Axt in seiner Hand bewusst und stellte sie neben der Tür ab. Er leuchtete den Raum mit der Taschenlampe ab, lauschte dem Feueralarm. Er sah Elin an, und ihm lief ein Schauer durch den Körper.
    Sie ist tot. Sie haben sie umgebracht und dorthin gelegt.
    »Elin?«, flüsterte er. »Elin, ich bin’s, Anders. Hörst du mich?«
    Sie nickte. Ein schwaches, ganz schwaches Nicken. Er machte eine Geste, warte kurz , und machte kehrt. Hinter sich hörte er Elin sagen: »Lass mich nicht allein.«
    »Ich muss nur kurz telefonieren. Bin gleich wieder da.«
    Er ging in die Küche, schaltete das Licht an, wählte Anna-Gretas Nummer und erzählte ihr, dass Elin zurückgekommen war und sie alles in Angriff nehmen mussten, sobald sie ein paar Stunden geschlafen hatten. Als Anna-Greta aufgelegt hatte, blieb Anders mit dem Hörer in der Hand stehen und starrte die schmutzige Kassette auf dem Tisch an.
    Die Musik, die gespielt wird, könnte man vielleicht sagen … dass es eine … ganz unter uns … eine fröhliche Musik ist?
    Er wollte irgendwo anrufen, um sich Hilfe zu holen. Er wollte Kalle Sender anrufen. Mit dem Hörer am Ohr am Küchentisch sitzen und als Balsam für die Seele Kalles sanftem Göteborger Dialekt lauschen, sich über Lappalien unterhalten und ab und zu lachen.
    Wie kann es in dieser Welt nur so zugehen? Wie ist es möglich, dass es die Dinge, die heute Nacht geschehen sind, genauso gibt wie Kalle Sender?
    Er legte den Hörer auf und spürte ein eigentümliches Brennen in seiner Brust. Er sehnte sich nicht nach Kalle Sender, sondern nach seinem Vater. Kalle war nur ein einfacherer und handlicherer Ersatz. Weil sie so viele fröhliche Stunden in Kalles Gesellschaft verbracht hatten, war Kalle für ihn mit seinem Vater zu einer Einheit verschmolzen, allerdings ohne schmerzliche Assoziationen auszulösen.
    In Wahrheit wollte er mit seinem Vater sprechen. Die quälende Sehnsucht, die er sich nicht hatte eingestehen wollen, kroch durch seine Brust und streckte ihre Klauen nach seinem Herzen aus. Er presste sie zurück und ging ins Schlafzimmer.
    Elin saß im Bett, wie er sie verlassen hatte. Sachte setzte er sich neben sie auf die Bettkante. »Soll ich Licht machen?«
    Elin schüttelte den Kopf. Das Licht aus der Küche reichte aus, um ihn ihr Gesicht sehen zu lassen. In der schwachen Beleuchtung war es Elsas sogar noch ähnlicher. Elin hatte ein markantes Kinn gehabt. Es war fort, ging fließend in den Hals über, wie es bei Elsa der Fall gewesen war.
    Wie haben sie das hinbekommen? Sie müssen … die Knochen zertrümmert haben.
    Sein Blick fiel auf die Blut- und Lehmspuren am Fußende des Betts. »Wir müssen … dich verbinden.«
    Elin zog die Decke enger um sich. »Nein. Ich will nicht.«
    Anders hatte nicht die Kraft, darauf zu bestehen.

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