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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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als er die Jugendherberge hinter sich gelassen hatte, erlaubte er seinen Gedanken, Gestalt anzunehmen. Ein Wust aus grauenvollen und unfassbaren Bildern füllte seinen Schädel, und plötzlich hatte er das Gefühl, vierzig Grad Fieber zu haben. Er verlor jegliche Kontrolle über seinen Körper und wollte sich einfach nur fallen lassen. Auf die Straße, in die Dunkelheit. Ruhen dürfen.
    Trotzdem gelang es ihm, sich bis zu der Stelle zu peitschen, an der sich der Weg gabelte und nach links schwenkte. Die leicht abschüssige Strecke zu Anna-Gretas Haus ermöglichte es ihm, das Fahrrad einfach rollen und die Beine baumeln zu lassen. Als er die Auffahrt zum Haus hinaufwankte, sah er, dass in der Küche immer noch Licht brannte.
    Er ließ das Fahrrad ins Gras fallen und kämpfte sich auf schweren Beinen bis zur Haustür hinauf. Er schwitzte und hatte Schüttelfrost und verpasste die Klinke beim ersten Versuch, ehe er sie zu fassen bekam und die Tür aufzog.
    Simon und Anna-Greta saßen über eine Menge Fotografien gebeugt, die auf dem Küchentisch lagen. Als Simon Anders sah, drückte sein Gesicht im ersten Moment Freude aus, die sich jedoch in Entsetzen verwandelte.
    »Aber Anders, was hast du gemacht?«
    Anders lehnte sich gegen den Küchenherd und wedelte in Richtung Kattudden, aber es kam kein Ton über seine Lippen. Simon und Anna-Greta waren bei ihm, und er ließ sich in ihre Arme fallen, auf den Flickenteppich sinken. Als er auf dem Rücken lag und ein paarmal tief durchgeatmet hatte, sagte er. »Ich muss mich nur … ein bisschen ausruhen.«
    Er blieb liegen, während die Küchenlampe eingeschaltet wurde und Simon und Anna-Greta Wasser holten und ihm ein Kissen unter den Kopf schoben. Mittlerweile hatte er keinen Schüttelfrost mehr und hätte möglicherweise sogar aufstehen können, aber er blieb liegen und ließ zu, dass die beiden ihn umhegten, weil es einfach unfassbar schön war, für kurze Zeit alles anderen zu überlassen.
    Sie zogen ihm die Hose aus, wuschen die Wunden auf seinen Beinen aus und verbanden sie mit Kompressen und Gaze. Simon gab ihm zwei Schmerztabletten und mehr Wasser. Nach ein paar Minuten glückseligen Schwebens in der Fürsorge anderer zog Anders sich auf einen Küchenstuhl hoch. Er versuchte sich zu sammeln und betrachtete die Fotografien, die auf dem Tisch verstreut lagen.
    Es waren alte Aufnahmen, sehr alte. Sie zeigten Häuser und Höfe, Menschen bei der Arbeit, Porträts. Viele von ihnen waren aufgrund ihres Alters vergilbt, und die Menschen machten ausnahmslos ein grimmig konzentriertes Gesicht, wie man es oft auf alten Bildern findet, als ob der Akt, fotografiert zu werden, eine besondere Anstrengung verlangte.
    Direkt vor ihm lag eine Porträtaufnahme, die seine Aufmerksamkeit erregte. Sie war im Freien entstanden und auf etwas entwickelt worden, das mattem Kartonpapier ähnelte. Über das Bild verliefen zwei breite Flammen aus fleckigem Gelb, als hätte jemand Urin darauf verspritzt. Das Bild zeigte eine Frau von etwa sechzig Jahren, die zornig in die Kamera starrte.
    »Ja«, sagte Simon. »Es kam mir so vor, als würde ich sie wiedererkennen.«
    Anders fand auf dem Tisch ein weiteres Bild der Frau, diesmal jedoch aus größerer Entfernung aufgenommen. Sie stand vor einem unansehnlichen, kleinen Haus auf einer Landzunge.
    »Wer ist das?«, fragte Anders.
    Anna-Greta stellte sich hinter ihn und zeigte auf die Fotografie. »Sie hieß Elsa Persson und war eine Kusine von Holgers Vater. Sie wohnte in dem Haus da. Auf Kattudden. Bis Holgers Vater das Ganze verkaufte. Danach wurde sie rausgeworfen und das Haus abgerissen. Und dann kamen die Touristen.«
    »Dein Urgroßvater Torgny hat die Bilder gemacht«, erläuterte Simon. »Anna-Greta hat mir erzählt, dass er jedes Haus auf der Insel fotografiert hat. Ich sitze hier manchmal und schaue sie mir an. Deshalb habe ich sie wiedererkannt.«
    Das stumpfe Kinn, die platte Nase, die tief liegenden Augen und die schmalen Lippen. Die Frau auf dem Foto war ein Abbild von Elin, wie sie heute aussah. Besser gesagt, Elin war ein plump ausgeführtes Abbild von der Frau auf dem Foto. Es waren noch nicht alle Details an ihrem Platz, aber so deutlich, wie man sah, dass eine billige Plastikmaske von George Bush ihn und niemanden sonst darstellen sollte, sah man auch, dass …
    … dass dies die Frau ist, die Elin darstellen soll.
    Anders zeigte auf das Haus, vor dem die Frau stand. Er erkannte die Umgebung, Kattholmens Position im Hintergrund,

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