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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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wurde. Wenige Sekunden später war sie bereits so tief gesunken, dass sie nur noch ein vager heller Fleck in der großen Dunkelheit war. Anders starrte hinunter, bis er nicht mehr sicher war, sie noch zu sehen, bis sie vom Spiel des Lichts auf der Oberfläche ersetzt worden war.
    Das schwarze Wasser. Er war so furchtbar müde, würde ein Jahr lang schlafen können. Er lehnte den Kopf gegen die Bordwand, schloss die Augen und flüsterte: »Ich bin so müde, Simon. Ich kann nicht mehr.«
    Sein Kopf wuchs und schrumpfte, sein Gehirn war eine Lunge. Es weitete sich und zog sich schnell und keuchend wieder zusammen. Sein Bewusstsein schnappte nach Luft, als wäre es am Ertrinken, die Lunge stand kurz vor dem Platzen.
    Es knackte, als Simon aufstand, sich neben Anders auf die Ducht setzte, ihn von der Reling freimachte und seinen Kopf in den eigenen Schoß legte. Anders kauerte sich zusammen, schlug die Arme um Simons Taille und legte den Kopf auf seine Oberschenkel. Simons kalte Hand strich ihm übers Haar.
    »Mein Junge«, sagte Simon. »Das wird schon wieder. Das kommt in Ordnung. Es wird schon wieder, Anders.«
    Simons Hand strich weiter sanft über seine Haare, und das war wie Sauerstoff. Das Keuchen in seinem Inneren hörte auf, die Panik legte sich, und er entspannte sich. Vielleicht schlief er für ein paar Sekunden ein. Falls er einschlief, war das Schlimmste jedenfalls vorbei, als er wach wurde. Simons Hand ruhte auf seinem Hinterkopf.
    »Simon«, sagte Anders, ohne den Kopf zu heben.
    »Ja?«
    »Weißt du noch, dass du gesagt hast, man … man könne niemals ein anderer Mensch werden, weißt du das noch? So nah man einander auch kommen mag, man kann doch niemals der andere werden.«
    »Stimmt, das habe ich gesagt. Aber allem Anschein nach habe ich mich geirrt.«
    »Es geht nicht nur um Elin. Es geht auch um mich. Ich bin dabei, Maja zu werden.«
    »Wie meinst du das?«
    Es gab natürlich ein Wort für das, was mit ihm geschah. Es war nicht das richtige Wort, es löste die falschen Assoziationen aus. Von Dämonen und Teufeln. Trotzdem war es das einzige Wort, das es gab.
    »Ich bin besessen. Ich bin dabei, ein anderer zu werden. Ich bin dabei, Maja zu werden.«
    Anders setzte sich auf und wechselte auf die Achterducht Simon gegenüber. Dann erzählte er seine Geschichte noch einmal im Licht seiner neuen Erkenntnisse. Dass er manchmal ihre Stimme in sich hörte, seine Angst vor dem Eisclown, die Tino-Tatz-Comics, ihr Bett, die Schrift auf dem Tisch und die Stiftplatte.
    Simon stellte nichts infrage, brachte keine Einwände vor. Er lauschte nur, brummte ab und zu, und es war, als lockere die starke Hand, die Anders’ Bewusstsein immer fester und fester umklammert hatte, mehr und mehr ihren Griff.
    »Deshalb glaube ich … deshalb weiß ich«, sagte Anders schließlich, »dass sie all das durch mich tut. Sie spielt mit den Perlen und liest Tino Tatz, aber sie benutzt meine Finger und meine Augen, um es zu tun, und ich weiß nicht … ich begreife nicht, was ich tun soll.«
    Die Sonne stand mittlerweile so hoch, dass sie wärmte. Während seines langen Berichts war Anders in seinen warmen Kleidern ins Schwitzen gekommen. Er zog seine Mütze aus, tauchte die Hand ins Meer, schöpfte etwas Wasser heraus und benetzte seine Augen. Simon schaute Richtung Nåten, wo soeben das erste Zubringerbot ablegte. Er fragte: »Und was will sie?«
    »Du … glaubst mir?«
    Simon wackelte mit dem Kopf. »Sagen wir mal so. Es ist nicht das Seltsamste, was ich in letzter Zeit gehört habe.«
    »Wie meinst du das?«
    Simon seufzte. »Ich glaube, das lassen wir einstweilen ruhen.« Als er sah, dass Anders die Stirn runzelte, fügte er hinzu: »Ich muss erst mit Anna-Greta reden. Darf ich ihr erzählen, was du mir gesagt hast?«
    »Ja, natürlich darfst du das, aber …«
    »Apropos Anna-Greta, ich glaube, wir sollten jetzt heimfahren. Sie macht sich bestimmt schon Sorgen.«
    Anders nickte und blickte über die Reling. Elin lag jetzt ungefähr fünfzig Meter unter ihnen auf dem Grund. Er stellte sich Fische vor, die den Neuankömmling beschnupperten, Aale, die sich aus dem Schlick am Meeresgrund wühlten und Nahrung witterten …
    Er verdrängte den Gedanken, ehe er anfing, sich in körperlichen Details zu suhlen. »Simon?«, fragte er. »Haben wir das Richtige getan?«
    »Ja. Ich denke schon. Und selbst wenn wir das Falsche getan hätten …«, Simon blickte auf die Wasseroberfläche, »… ließe es sich jetzt auch nicht mehr

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