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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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hier waren doch mit Sicherheit deutlich mehr als fünfzig Kilo? Siebzig? Achtzig? Als er den massiven, in Garn geschnürten Fischhaufen betrachtete, fiel ihm noch etwas Ungewöhnliches auf.
    Heringe waren längst nicht so zäh wie Barsche oder Schollen, die oft noch lange, nachdem man sie aus dem Meer gezogen hatte, weiterlebten, aber sie zappelten trotzdem noch eine Weile im Netz, nachdem sie Kurs auf den Hafen genommen hatten. Das war diesmal anders.
    Die Heringe lagen vollkommen still und rührten sich nicht. Anders ging in die Hocke und griff nach einem Hering, der aus dem Netz gefallen war. Der kleine Körper war starr, fast gefroren, die Augen milchig weiß. Er hielt ihn seinem Vater hin, dessen Hände noch immer auf dem Motorblock ruhten. »Warum sind sie so?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Aber … was ist denn passiert?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Aber wie können die Heringe denn einfach …«
    »Ich hab doch gesagt, dass ich es nicht weiß!«
    Es kam nur selten vor, dass sein Vater die Stimme erhob. Als er es jetzt tat, versetzte es Anders deshalb einen Stich, der seine Wangen zum Glühen brachte und ihn weitere Fragen herunterschlucken ließ. Er wusste nicht, was er Falsches gesagt hatte, aber irgendetwas war es, und er schämte sich, weil er die schöne Stimmung zerstört hatte, ohne zu wissen, wie es dazu gekommen war.
    Der Hering war in der Wärme seiner Hand erschlafft. Er ließ ihn zu Boden fallen, schob sich in den Bug, blinzelte in die Sonne und hatte einen Kloß im Bauch. Er freute sich nicht mehr über den großen Fang. Von ihm aus konnten sie den ganzen Mist ins Meer zurückwerfen.
    Er legte die Wange auf das Holz und blieb still liegen.
    Komisch …
    Er lag eine Weile da und lauschte. Dann hob er den Kopf und ließ den Blick über die Förde von Ledinge schweifen.
    Dass ihm das nicht schon früher aufgefallen war. Man sah keine einzige Möwe auf der gesamten Förde. Normalerweise hätte es ein Geschrei und Gezänk um die Fische gegeben, die beim Herausholen aus dem Netz gefallen waren, flatternde Flügel oder weiße, schaukelnde Körper, die darauf warteten, dass Anders ihnen Fischreste oder Heringe zuwerfen würde, die für den Verkauf zu klein waren.
    Aber jetzt: kein Ton. Kein einziger Vogel.
    Anders lag noch da und dachte darüber nach, als er die Hand seines Vaters auf seinem Fuß spürte.
    »Du, es tut mir leid, dass ich … dich angeschnauzt habe. Das wollte ich nicht.«
    »Okay.«
    Anders blieb auf dem Bauch liegen und wartete darauf, dass sein Vater weitersprach. Als er stumm blieb, sagte er: »Papa!«
    »Ja?«
    »Warum sind hier keine Möwen?«
    Eine kleine Pause, dann seufzte sein Vater und sagte ohne Zorn: »Fängst du schon wieder an?«
    »Nee. Aber komisch ist es schon, oder?«
    »Stimmt.«
    Der Vater tätschelte Anders’ Wade, ging und ließ den Motor an. Als sie ein paar Minuten gefahren waren, setzte Anders sich auf und spähte aufs Meer hinaus. Weit und breit war kein weißer Vogel in Sicht. Auch keine anderen Vögel. Das Meer lag verwaist. Die einzige Bewegung ringsum war die Bugwelle, die das Boot umgab, das einzige Geräusch das gleichmäßige Knattern des Motors.
    Auf dem Heimweg stellte Anders sich vor, er und sein Vater wären die einzigen Überlebenden einer Katastrophe, die alles Leben auf der Erde ausgelöscht hatte. Wie würde ihr Dasein von jetzt an aussehen?
    Offenbar hatten auch noch andere Lebewesen die Katastrophe überlebt, denn Simons Kater Dante erwartete sie auf dem Bootssteg. Anders nahm die Achterleine und sprang neben dem äußersten Poller hinauf. Während der Kater um seine Beine strich, machte er sorgfältig den halben Schlag, den er im Vorsommer gelernt hatte.
    Als das Boot vertäut war, streichelte er Dantes Kopf, stieg wieder in den Bug hinunter und warf ihm ein paar Heringe auf den Steg. Er wollte sehen, wie der Kater reagieren würde. Anfangs merkte man keinen Unterschied zu sonst. Weil Dantes Würde dies offenbar verlangte, tat er stets so, als hätte er die Beute selbst gefangen. Er kauerte sich zusammen und schlich sich an die leblosen Fische an, als wäre äußerste Vorsicht geboten, damit sie ihm nicht entkamen.
    Anschließend machte er einen Satz, setzte beide Vorderpfoten auf den Hering und hielt ihn mit ausgefahrenen Krallen fest. Wenn er sicher war, dass der Fisch nicht fliehen würde, biss er zu. Das Ganze sah so komisch aus, dass Anders lachen musste.
    Dante hielt mit den Zähnen im Hering inne, hob den Kopf und nieste zweimal. Er

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