Menschenhafen
sich um, suchte nach einem Erwachsenen, der ihm die Sache erklären oder wenigstens mit einem beruhigenden Blick signalisieren konnte, dass alles war, wie es sein sollte.
Es war kein Erwachsener in der Nähe. Übrigens auch sonst kein Mensch. Es gab nur Anders und diesen Mann, der mittlerweile bis zur Taille im Wasser war und mit immer schwereren Schritten weiterstapfte, direkt auf Gåvasten zu, als führe ein geheimer Weg dort hinaus, den man nur einschlagen konnte, wenn man die richtige Einstellung hatte.
Als dem Mann das Wasser bis zur Brust reichte, begann er zu schwimmen. Anders stand auf und wusste nicht, was er tun sollte. Er lutschte an seinem Eis, biss zweimal ab und sah, wie sich der Kopf des Mannes langsam vom Schiffsanleger entfernte. Es sah nicht gerade so aus, als wäre der Mann ein geübter Schwimmer, er schlug mit den Armen um sich und bewegte sich seltsam.
Vielleicht weil er Kleider anhat.
Als er sein Eis aufgegessen hatte und der Mann keine Anstalten machte umzukehren, warf Anders den Stiel in die Mülltonne und ging in den Laden.
Auch dort herrschte mittägliche Leere. Anders fand Ove, den Inhaber, im Kühlraum hinter dem Schrank für die Milchprodukte, wo er Milch auffüllte.
»Sieh an, wie läuft das Geschäft?«, fragte Ove, ohne von seiner Arbeit aufzublicken.
»Ich kann nicht klagen, es läuft gut«, antwortete Anders.
»Bei uns auch. Viel los heute.«
»Ja.« Anders wurde unsicher. So hatte er Ove noch nie angesprochen, und mit seinem großen Bauch und seinen riesigen Augenbrauen war er eine furchterregende Gestalt. Anders rieb sich den Arm und sagte: »Da draußen ist ein Mann und schwimmt.«
Ove räumte die letzte Milchtüte ein und richtete sich auf. »Das kann ich gut verstehen. Es ist heiß heute.«
»Mm. Aber er hat seine Kleider an und …« Anders wusste nicht, wie er das unheilvolle Gefühl beschreiben sollte, das ihn beschlichen hatte, als der Mann zum Schiffsanleger hinunterging, »… und irgendwas ist komisch mit ihm.«
»Wie meinst du das, komisch?«
»Na, dass er … sich nicht ausgezogen hat. Er ist einfach rausgegangen und … und ist auch ein bisschen komisch gegangen.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Na ja, er schwimmt immer noch.«
Ove schloss den Milchschrank, wischte die Hände an seiner Schürze ab und sagte: »Dann wollen wir wohl mal lieber nachsehen.«
Als Anders zwei Schritte hinter Ove aus dem Geschäft trat, erkannte er, dass eingetroffen war, was er bereits befürchtet hatte. Von dem Mann war nichts mehr zu sehen.
»Und wo soll jetzt der Mann sein?«, fragte Ove.
Anders spürte, dass seine Wangen rot anliefen. »Eben war er noch da.«
Ove sah ihn misstrauisch an, als versuchte er, einen triftigen Grund dafür zu finden, dass Anders sich die Geschichte aus gedacht hatte. Offensichtlich fiel ihm keiner ein, da er mit Anders im Schlepptau mit schnelleren Schritten zum Schiffsanleger hinunterging.
Als sie auf ihn traten, war auch von dort aus nichts zu sehen, und Ove schüttelte den Kopf.
»Nee, Anders. Hier scheint keiner zu sein.«
Anders spähte aufs Wasser hinaus, und ihm fielen zwei Enten ins Auge, die zehn Meter entfernt auf dem Wasser schaukelten. Aber es waren gar keine Enten. Es war ein Paar Holzschuhe. Er zeigte sie Ove, und daraufhin ging der Zirkus los.
Ove telefonierte, und es kamen Leute. Man fuhr mit Booten hinaus, und der Seenotrettungsdienst wurde aus Nåten herbeigerufen. Anders musste den Mann beschreiben, der ins Wasser gegangen war, und man kam zu dem Schluss, dass es sich um Torgny Ek handeln musste, den Sohn von Kristoffer und Astrid Ek, die einige Häuser hinter dem Lebensmittelladen wohnten.
Neugierige Sommerurlauber von Kattudden und aus der Jugendherberge kamen hinzu, weil sie wissen wollten, was der Grund für den Menschenauflauf im Hafen war. Schon bald kannten alle die Geschichte von dem armen kleinen Jungen – will sagen Anders –, der alles mitansehen musste, und wie konnte man seinem Mitgefühl mit dem schutzlosen Kind am besten Ausdruck verleihen? Indem man ihm seine Heringe abkaufte, natürlich.
Um die Wahrheit zu sagen, war Anders weder besonders betroffen noch besonders traurig über das, was vorgefallen war, begriff jedoch, dass er am besten eine ernste Miene aufsetzte, während die Leute ihm die Heringe aus den Händen rissen und das Geld in seinen Taschen verschwand. Er war sogar klug genug, das Sonderangebot nicht mehr zu erwähnen, da er erkannte, dass dies der Situation nicht angemessen gewesen
Weitere Kostenlose Bücher