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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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ungern über den morgendlichen Ausflug sprechen, weshalb er nur meinte, es sei so gut gegangen, wie es gut gehen konnte, und sich erkundigte, wie spät es war.
    »Halb zwölf«, antwortete Anna-Greta. »Ich wusste nicht, ob ich dich wecken soll, aber … ich hätte da einen Vorschlag zu machen. Er kommt vielleicht in einem unpassenden Moment. Wenn es so ist, musst du es sagen.«
    »Worum geht’s denn?«
    Simon hatte eigentlich für die nächste Zeit genug von Überraschungen. Anna-Gretas Körperhaltung und ihr Knibbeln an der Nagelhaut deuteten an, dass sie im Begriff stand, eine schwierige Frage zu stellen. Simon seufzte, ließ sich aufs Kissen zurückfallen und wollte schon sagen, dass seine Antwort auf jede denkbare Frage im Moment Nein lautete, als Anna-Greta fragte: »Willst du mich immer noch heiraten?«
    Das Nein musste sich noch etwas gedulden. Simon antwortete stattdessen mit Ja, fügte jedoch hinzu:
    »Wieso?«
    »Willst du mich jetzt heiraten?«
    Simon blinzelte und schaute sich im Zimmer um, als wollte er nachsehen, ob irgendwo ein Pfarrer versteckt stand. Das war nicht der Fall. Er verstand die Frage nicht.
    »Jetzt? Was meinst du mit jetzt?«
    »So schnell wie möglich.«
    »Haben wir es … eilig?«
    Anna-Greta legte das Kinn in die Hand. In dem Blick, den sie längere Zeit auf Simon richtete, lag Trauer. Schließlich sagte sie. »Kann sein. Man weiß nie. Und ich will verheiratet sein, falls … falls etwas passiert.«
    »Wie meinst du das?«
    Anna-Greta strich mit dem Zeigefinger über die Lebenslinie in ihrer Hand und sah Simon nicht an, als sie antwortete: »Du weißt ja, dass ich nicht besonders religiös bin. Aber trotzdem. Es bedeutet mir etwas. Ich will, dass wir …«, Anna-Greta holte tief Luft und spannte den Brustkorb an, als müsste sie sich anstrengen, um die großen Worte über die Lippen zu bekommen, »… vor Gott getraut sind. Falls etwas passieren sollte.« Sie sah Simon an und lächelte entschuldigend. »So meine ich das.«
    »Okay«, sagte Simon. »Ich verstehe. Und wie lautet dein Vorschlag?«
    Anna-Greta hatte am Morgen ein paar Telefonate geführt. Um heiraten zu können, benötigte man ein Ehefähigkeitszeugnis. Das bekam man im Einwohnermeldeamt von Norrtälje. Normalerweise dauerte es ein oder zwei Wochen, die Papiere zu bekommen, aber in dringenden Fällen ging es schneller. Sogar am gleichen Tag.
    »Ich habe gesagt, wir hätten die Kirche für morgen gebucht, diese Kleinigkeit aber leider vergessen«, erläuterte Anna-Greta. »Wenn wir das Boot um eins nehmen, schaffen wir es noch.«
    Simon hatte vergessen, dass er Nein sagen wollte, und begann seine Pyjamajacke auszuziehen. Auf halbem Weg hielt er inne und ließ sie wieder über den Kopf herabfallen. »Hast du das wirklich getan? Ich meine, die Kirche gebucht?«
    Anna-Greta lachte auf. »Nein. Ich wusste doch nicht, ob du die Idee gut finden würdest.«
    Sie rutschte etwas, um Simon Platz zum Aufstehen zu machen. Simon zog das Oberteil über den Kopf und stand auf den Bettpfosten gestützt auf. »Ob ich es gut finden soll, weiß ich nicht. Aber ich verstehe dein Argument. Könnte man vielleicht eine Tasse Kaffee bekommen, bevor es … auf Hochzeitsreise geht?«
    Anna-Greta ging in die Küche, um die Kaffeemaschine zu füllen. Simon stand gegen den Bettpfosten gelehnt. Als sich die Ereignisse des Morgens hinterrücks auf ihn stürzten, taumelte er. Ihm wurde schwindlig, und er musste sich wieder aufs Bett setzen. Mit Händen, die ihm unwirklich erschienen, zog er die Pyjamahose aus und Unterhose und Strümpfe an. Dann war Schluss. Er hielt sich die Hände vor die Augen.
    Meine Finger.
    Sein ganzes Lebenswerk baute darauf auf, was er mit seinen Fingern tun konnte – oder tun gekonnt hatte. Tausende Stunden vor dem Spiegel, in denen er an jeder kleinsten Bewegung gefeilt hatte, damit sie natürlich aussah, obwohl sie etwas anderes verbarg. Er hatte seine Finger zu Gehorsam gedrillt und unter Kontrolle gehabt.
    Dieselben Finger hatten am frühen Morgen seine alte Kette um einen toten Menschen gewickelt, dieselben Hände hatten ein paar Füße über die Reling gekippt und eine junge Frau in der Tiefe verschwinden lassen. Damit ihnen unangenehme Fragen erspart blieben. Um Problemen aus dem Weg zu gehen. Das hatten seine gedrillten Finger getan.
    Der Gedanke wollte ihn nicht loslassen. Als Simon vom Bett aufstand und die Tür des Kleiderschranks öffnete, sah er ständig seine Hände an, als wären sie Prothesen,

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