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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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fremdartige Gegenstände, die man an seinen Armen festgeschraubt hatte, während er schlief.
    Er holte Hose, Hemd und Jackett heraus. Den feinen Anzug. Er zog sich an. Vielleicht hatte die Störung seines normalen Tagesrhythmus etwas mit seinem Kopf angestellt, jedenfalls fand er tatsächlich, dass sich seine Finger benahmen, als hätten sie einen freien Willen, den er nur mit Mühe dazu anhalten konnte, die Bewegungen auszuführen, die Simon wünschte. Die Knöpfe zu schließen, den Gürtel zu spannen.
    Als er den obersten Knopf seines Hemds zuknöpfte, hielt er inne.
    Fühlt es sich so an? Besessen zu sein?
    Er musterte sich im Spiegel der Schranktür. Nicht dass er gewusst hätte, wie es sich anfühlen musste, aber er glaubte nicht, dass es hier darum ging. Es war mehr wie in der Redensart: Er stand neben sich. Einer handelte, und einer stand direkt daneben und sah zu.
    Er strich seine langen, grauen Haare zurück, zog das Jackett an und musterte sich nochmals im Spiegel.
    Hier bin ich.
    Er versuchte das Gefühl heraufzubeschwören, das ihn beschlichen hatte, als ein Ahornblatt seine Bahn gekreuzt hatte. Es wollte ihm nicht gelingen. Dennoch verneigte er sich leicht vor dem Spiegel und bedankte sich für das gespaltene Leben, das ihm trotz allem zugebilligt worden war.
    Klatsch, klatsch.
    Anna-Greta stand gegen den Türrahmen gelehnt, sah ihn an und klatschte noch zweimal in die Hände. »Du siehst wirklich gut aus. Komm jetzt, der Kaffee ist fertig.«
    Simon folgte ihr in die Küche. Als er die erste Tasse getrunken hatte, wurden seine Gedanken allmählich klarer. Er schaute zum Fenster hinaus, und sein Blick fiel auf die Stelle auf dem Rasen, an der damals Marita gesessen hatte. Als er mit einer Schrotflinte vor ihr gestanden und in Erwägung gezogen hatte, sie hinzurichten.
    Auch damals hatte er erlebt, dass er aus sich herausgeschleudert wurde, neben sich stand und zusah.
    Das sind nur Ausflüchte, dachte er und goss sich noch eine Tasse ein. Wir sprechen davon, dass wir von Sinnen sind, nicht wir selbst sind, die Kontrolle verlieren. Uns fällt immer eine Ausrede ein. Aber wir sind immer wir selbst. Es gibt keine eingebildeten Freunde, die in unserem Namen Dinge tun.
    Es sei denn … es sei denn …
    »Woran denkst du?«, fragte Anna-Greta.
    Simon gab wieder, was Anders ihm im Boot erzählt hatte. Dass Maja in ihn gefahren sei, Einfluss auf ihn ausübe und nachts seine Hände lenke. Dass er so besessen sei, wie Elin es gewesen war.
    Als er verstummte, schwieg Anna-Greta eine Weile und schaute zu Smäcket hinüber. Schließlich sagte sie: »Armes Ding.«
    Simon wusste nicht, ob sie Anders oder Maja meinte, und im Grunde spielte es auch keine Rolle. Plötzlich erschien ihm das alles so unmöglich, und Anna-Gretas schlichtes Mitgefühl bestärkte sein Gefühl nur noch zusätzlich.
    »Glaubst du wirklich, dass es so ist?«, fragte er. »Dass die Geister der Toten aus dem Meer kommen und … und …«
    »Es ist nicht gesagt, dass sie tot sind. Im Grunde wissen wir gar nichts. Nichts.«
    »Aber was können wir tun?«
    Anna-Greta streckte sich über den Tisch und legte ihre Hand auf seine.
    »Was wir jetzt, in diesem Moment, tun können«, sagte sie, »ist, um eins das Boot nach Norrtälje zu nehmen und ein paar Dokumente zu unterzeichnen, damit wir heiraten können.«
    Simon schielte auf die Uhr. Es war zwanzig vor eins, und sie mussten bald gehen, wenn sie es noch schaffen wollten. Er nahm die Streichholzschachtel von der Fensterbank und sagte: »Ja. Das ist unser Tag. Das machen wir jetzt. Könntest du bitte kurz … rausgehen und draußen auf mich warten?«
    Anna-Greta hob fragend die Augenbrauen, und Simon zeigte auf die Schachtel. »Ich muss …«
    »Dann tu’s doch.«
    »Ich wäre lieber allein.«
    »Und warum?«
    Simon betrachtete die weiße Silhouette des Streichholzmännchens. Warum? Er hätte Gründe erfinden können, stattdessen sagte er, wie es war: »Weil ich mich schäme. Es käme mir vor, als … als wäre man nicht allein, wenn man auf Toilette geht. Kannst du das verstehen?«
    Anna-Greta schüttelte den Kopf und lächelte. »Wenn wir zwei zusammen noch älter werden wollen, könnte es passieren, dass einer von uns dem anderen den Hintern abwischen muss, ehe es vorbei ist. Tu jetzt, was du tun musst.«
    Simon zögerte. Er war sich nicht bewusst gewesen, wie sehr seine Beziehung zu Spiritus mit Scham belegt war, und fühlte sich schmutzig, als er die Schachtel aufschob. Er schielte zu

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