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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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stutzen.
    Anna-Gretas lange, graue Haare waren zu einer wellenförmigen Frisur hochgesteckt, die das bleiche Licht vom Fenster einfing, sodass es in silbernen Spritzern an ihr herablief. Die weißen Blumen des beigefarbenen Kleids verstärkten den Eindruck eines flüchtig geliehenen Sternenglanzes, der sich bis zu ihrer Stirn erstreckte. Das Gesicht war behutsam geschminkt, um den Glanz ihrer Augen zu betonen.
    Neben ihr saßen zwei Frauen im gleichen Alter auf Stühlen und waren mit Feinheiten am Kleid beschäftigt. Anders’ Blick schoss durch den Raum. Kein Simon.
    »Wie sehe ich aus?«, fragte Anna-Greta.
    »Großartig«, antwortete Anders wahrheitsgemäß. »Ist Simon hier gewesen?«
    »Nein.« Das Leuchten in Anna-Gretas Augen ermattete ein wenig. »Ist er noch nicht gekommen?«
    Anders schüttelte den Kopf, und Anna-Greta machte Anstalten, selbst hinauszugehen und sich zu vergewissern, aber eine der Frauen hielt sie zurück und sagte: »Er kommt, er kommt. Steh jetzt still.«
    Anna-Greta breitete die Arme in einer hilflosen Geste aus, wie um zu verdeutlichen, dass sie die Gefangene dieser Frauen war. »Geh raus und warte mit den anderen«, sagte sie. »Er wird schon kommen.«
    Anders verließ den Raum und ließ sie in der Obhut ihrer Wächterinnen zurück. Er hatte getan, was er konnte. Es war nicht mehr sein Problem. Trotzdem tat Anna-Greta ihm leid. Weil sie so hübsch war, so herausgeputzt, so erwartungsvoll. Seine kleine Großmutter.
    Denn er wusste, dass Simon nicht kommen würde. Weil er aus irgendeinem Grund den Kräften in die Hände gefallen war, die im Umlauf waren. Es war einfach so. Simon war fort, und er selbst würde um drei das Boot zurück nehmen und all seinen Sorgen ein Ende setzen.
    Es war Viertel vor zwei, als Anders zur Kirche hinaufging und durch die offene Tür hineinschaute. Etwa dreißig Personen saßen in den Bankreihen versammelt. Die Gäste vom Zubringerboot hatten Verstärkung von Leuten aus Nåten und anderen erhalten, die in eigenen Booten gekommen waren. Am Altar stand der Pfarrer und zupfte einen Strauß weißer Rosen in einer Vase zurecht.
    Von der Neigung des Hangs gezogen schlenderte Anders zum Kirchhof hinunter und spazierte zwischen den Steinen herum. Lange blieb er vor dem Familiengrab stehen, in dem sein Vater und Großvater allein mit ihren Namen unter Torgny und Maja standen. Wahrscheinlich würde Anna-Greta dafür sorgen, dass sein eigener Name als unterster in der Spalte alleinstehender Männer hinzugefügt wurde.
    Und Simon? Wo wird Simon landen?
    Kurz nach zwei begannen die Leute aus der Kirche zu strömen, um nachzusehen, was sich tat, oder vielmehr, warum sich nichts tat. Anders bewegte sich weiter zum Wasser hinunter, um nicht angesprochen zu werden. Er blieb vor dem großen Anker stehen und las die Aufschrift der Plakette.
    »ZUR ERINNERUNG AN ALLE, DIE AUF DEM MEER VERSCHWANDEN«
    Anders strich mit der Hand über das rostige Gusseisen, das geteerte Holz. Es würde besser zu ihm passen, hier begraben zu werden, unter dem Anker, denn er war auf dem Meer verschwunden und anschließend überflüssigerweise noch für ein paar Jahre an Land herumgelaufen. Sein Blick folgte der Kette, die von der Spitze des Ankers in die Erde hinablief.
    Wo führt sie hin?
    Er sah die Kette vor seinem inneren Auge im Untergrund oder auf dem Meeresgrund verschwinden, schleuderte in Gedanken seinen eigenen Körper in Richtung der Kette und begleitete sie in die Tiefe …
    … in den Schlamm am Grund gebohrt zu werden, in den Schlick und blauen Ton, bis zu dem Punkt hinab, an dem keiner leben kann, an dem es vollkommen still ist  …
    Sein Gedankengang wurde von Rufen unterbrochen, die vom Kirchplatz zu ihm herüberschallten. Die Leute zeigten aufs Meer hinaus, und als sich Anders umdrehte, kräuselten sich seine Lippen trotz allem zu einem Lächeln.
    Ein Boot fuhr über die Förde. Ein wackeliges Plastikboot mit einem 20-PS-Motor der Firma Evinrude. Simons Boot.
    Die Hochzeitsgäste strömten wie eine Herde eifriger Schafe den Kirchhofhang hinunter und versammelten sich am Ufer, während das Boot näher kam. An Bord waren zwei Personen, und als das Boot etwa hundert Meter vom Land entfernt war, sah Anders, dass es Simon und Göran waren. Göran steuerte, und Simon saß mit flatternden Haaren im Bug. Die Leute jubelten und applaudierten.
    Der letzte Auftritt des Zauberers.
    Das Boot fuhr direkt auf die Uferböschung unterhalb des Ankers zu. Göran legte den Leerlauf ein, und sie

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