Menschenhafen
still lag, sagte er: »Ich habe beschlossen, trotz allem zu leben. Ich habe gedacht, ich würde auch verschwinden wollen. Aber … es hat sich herausgestellt, dass das nicht stimmt. Also habe ich vor, es zu versuchen … ich bin am Nullpunkt. Ich bin ganz unten angekommen und … von dort aus kann man sich wieder abstoßen. Nach oben.«
Simon brummte zustimmend und wartete ab. Als Anders stumm blieb, fragte er:
»Trinkst du immer noch so viel?«
»Wieso?«
»Schon gut, ich dachte nur … es kann schwierig sein, es sich wieder abzugewöhnen.«
Es zuckte in Anders’ Wangenmuskeln. Seine Trinkgewohnheiten waren ein Thema, über das er nur ungern sprach. Als Maja noch da war, hatten Cecilia und er maßvoll getrunken. Ungefähr drei Flaschen in der Woche. Nach Majas Verschwinden hatte Cecilia keinen Tropfen mehr angerührt, sie hatte erklärt, dass ihre Gedanken schon von einem Glas Wein in üble Bahnen gelenkt würden. Anders hatte für sie beide getrunken und mit der Zeit immer mehr. Stumme Abende vor dem Fernseher. Ein Glas Wein nach dem anderen und am Ende Schnaps. Um überhaupt nicht mehr denken zu müssen.
Er wusste nicht, welche Rolle sein Alkoholkonsum dabei gespielt hatte, als sie nach einem halben Jahr sagte, sie halte es nicht mehr aus, ihr gemeinsames Leben sei wie Blei an ihren Füßen, das sie immer tiefer in die Dunkelheit hinunterziehe.
Danach war der Schnaps zum Mittelpunkt seines Daseins geworden. Er hatte sich eine Grenze gesteckt: vor acht Uhr abends nicht zu trinken. Nach einer Woche hatte er die Grenze auf sieben Uhr vorverlegt. Und so weiter. Am Ende trank er, wann immer ihm danach war, also ständig.
Während der drei Wochen, die seit dem Vorfall mit dem Farn vergangen waren, hatte er die Grenze mit einer großen Willensanstrengung erneut auf acht Uhr verlegt und es tatsächlich geschafft, sich an diese Regel zu halten. Sein Gesicht und seine Augen hatten etwas von ihrer normalen Farbe zurückbekommen, nachdem sie während eines guten Jahrs wegen geplatzter Blutgefäße rot unterlaufen gewesen waren.
Anders strich sich über das Gesicht und sagte: »Ich hab die Sache im Griff.«
»Hast du?«
»Ja, verdammt. Was willst du denn hören?«
Simon verzog als Antwort auf seine aufbrausende Frage keine Miene. Anders blinzelte mehrmals, schämte sich und sagte: »Ich arbeite daran. Das tue ich wirklich.«
Es wurde wieder still. Anders hatte nichts hinzuzufügen. Das war sein Problem, ganz allein seins. Ein Grund für seine Rückkehr nach Domarö war der Wunsch gewesen, die zerstörerischen Rituale, die er sich angewöhnt hatte, hinter sich zu lassen. Er konnte nur hoffen, dass es ihm gelingen würde. Mehr gab es dazu nicht zu sagen.
Simon wollte wissen, ob er etwas von Cecilia gehört habe, und Anders zuckte mit den Schultern.
»Ich habe seit einem halben Jahr nichts mehr von ihr gehört. Ist schon komisch, nicht? Man teilt alles miteinander und dann … peng. Weg. Aber so ist das wohl.«
Er spürte, dass sich schleichend Verbitterung in ihm regte. Das war nicht gut. Wenn er hier noch ein bisschen länger sitzen blieb, würde er vermutlich in Tränen ausbrechen. Nicht gut. Er hatte allerdings keine Scheu, offen seine Gefühle zu zeigen, er hatte eimerweise Tränen vergossen.
Eimerweise?
Ja. Vielleicht hatte er wirklich einen Eimer Tränen vergossen. Einen ganzen verdammten Zehnlitereimer voller Tränen. Aufgesogen von Papier und Ärmeln, auf die Couch getropft, ins Bettlaken, in der Nacht vom Gesicht verdampft. Salz im Mund, Rotz in der Nase. Ein randvoller Plastikeimer Tränen.
Doch jetzt würde er keine Tränen vergießen. Er hatte nicht vor, sein neues Leben damit zu beginnen, sich über alles zu beklagen, was verschwunden war.
Anders leerte seine Kaffeetasse und stand auf.
»Vielen Dank. Ich werde jetzt mal runtergehen und … nachsehen, ob das Haus noch steht.«
»Das tut es«, sagte Simon. »Erstaunlicherweise. Du schaust doch mal bei Anna-Greta vorbei?«
»Morgen. Versprochen.«
Als Anders wieder an der Stelle stand, an der sich der Weg gabelte, dachte er: Ein neues Leben? Das gibt es nicht.
Ein neues Leben bekamen nur die Leute in den Schlagzeilen der Illustrierten. Sie hörten auf zu trinken oder Drogen zu nehmen, fanden eine neue Liebe. Aber das gleiche Leben.
Anders schaute den Weg zum Haus hinauf. Er konnte es neu möblieren, es blau streichen und die Fenster auswechseln. Es würde trotzdem immer dasselbe, verbaute Haus mit derselben schlechten Grundkonstruktion
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