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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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Flasche andererseits nicht so anwinkeln, dass Wasser hineinlief. Folglich würde er den Duschkopf abschrauben müssen …
    Er ist sowieso tot.
    Außerdem konnte er sich nicht aufraffen.
    In dem Blumentopf fand er acht Zigarettenkippen. Einige waren halb in die harte Erde gedrückt. Folglich musste er hier gestanden und geraucht haben. Erinnern konnte er sich daran nicht. Als er mit den Fingern über die trockenen Zweige strich, lösten sich einige Blätter und taumelten zu Boden.
    Wo kommst du her?
    Ihm kam der Gedanke, dass die Pflanze genauso einfach in die Welt gefallen war, wie Maja aus ihr herausgefallen war. Durch einen Spalt in der Raumzeit war sie plötzlich aufgetaucht, so wie seine Tochter plötzlich nicht mehr da gewesen war. Verschwunden.
    Was hatte Simon noch gesagt, wenn er für sie zauberte?
    Nichts hier, nichts da  … dann hatte er auf seinen Kopf gezeigt … und absolut nichts da.
    Bei dem Gedanken an Majas Gesichtsausdruck, als Simon, nur zwei Monate vor ihrem Verschwinden, zum ersten Mal für sie gezaubert hatte, verzog Anders das Gesicht. Ein Schaumgummibällchen in Simons Hand hatte sich in Luft aufgelöst, und aus dem einen Bällchen, das Maja kurz zuvor noch in der Hand gehalten hatte, waren zwei geworden. Maja hatte Simon weiterhin erwartungsvoll angesehen: Aha? Und jetzt?
    Magie ist nicht das gleiche Wunder, wenn man fünf ist. Eher etwas Natürliches.
    Anders drückte die Zigarette im Topf aus, machte damit aus den acht Kippen neun und erinnerte sich im gleichen Moment: Mutter .
    Seine Mutter hatte ihm die Pflanze mitgebracht, als sie ihn vor vier Monaten besuchte. Sie hatte die Wohnung für ihn geputzt und den Farn dorthin gestellt. Er war in einer seiner apathischen Phasen gewesen, hatte nur auf dem Bett gelegen und ihr zugesehen. Danach war sie zu ihrem Leben in Göteborg zurückgekehrt.
    Der Farn hatte nicht zu den Dingen gehört, die unbedingt gebraucht wurden, also hatte er ihn vergessen, ihm kaum mehr Beachtung geschenkt als einem Fleck auf der Tapete.
    Aber jetzt sah er ihn. Jetzt betrachtete er ihn. Jetzt dachte er nochmals den Gedanken.
    Das Ding ist das Hässlichste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.
    Ja. Das war ihm in den Sinn gekommen, als ihm der Farn endlich ins Auge gefallen war. Der einsame, tote Farn auf dem staubigen Fensterbrett vor einem Hintergrund aus schmutzigem Sonnenlicht, das durch ein nicht geputztes Fenster hereinfiel. Dass dies das Hässlichste war, was er jemals gesehen hatte.
    Ausnahmsweise machte der Gedanke an diesem Punkt nicht Halt, sondern lief weiter und schweifte über das Leben, das ein solches Monster hervorbringen konnte: Es war ein hässliches Leben.
    Er konnte ertragen, dass sein Leben hässlich war. Das wusste er, denn er hatte es so eingerichtet, er hatte sich daran gewöhnt und war darauf gefasst, als Folge seines hässlichen Lebens binnen weniger Jahre zu sterben.
    Aber der Farn …
    Der Farn war einfach zu viel. Er war unerträglich.
    Anders musste husten und schleppte sich ins Schlafzimmer. Es kam ihm vor, als wäre seine Lunge auf die Größe einer Faust zusammengeschrumpft. Einer fest geballten Faust. Er nahm das Foto von Maja vom Nachttisch und trug es zum Fenster.  
    Die Aufnahme war an ihrem sechsten Geburtstag entstanden, zwei Wochen vor ihrem Verschwinden. In die Stirn geschoben trug sie eine Maske, die sie im Kindergarten gebastelt hatte und Teufelstroll nannte. Er hatte genau in dem Moment den Auslöser betätigt, in dem sie die Maske hochschob und ihn mit erwartungsvollen Augen ansah, um zu schauen, welche Wirkung ihre »Erschreckung«, wie sie sagte, gehabt hatte.
    Die Lachgrübchen auf ihren Wangen traten deutlich hervor, und ihre dünnen, braunen Haare waren von der Maske so zurückgeschoben worden, dass man ihre leicht abstehenden Ohren sah. Die Augen, sonst ungewöhnlich klein, hatte sie weit aufgerissen, und sie blickten unverwandt in seine.
    Er kannte dieses Bild in- und auswendig, jedes einzelne minimale Partikel, das die Linse erfasst und als weißen Punkt festgehalten hatte, jedes Flaumhaar auf ihrer Oberlippe. Wenn er wollte, konnte er es jederzeit heraufbeschwören.
    »Maja«, sagte er. »Ich kann nicht mehr. Hier. Sieh mal.«
    Er drehte das Foto so, dass Majas Augen den Farn betrachteten.
    »Das geht nicht.«
    Er stellte das Foto neben dem Farn ab und öffnete das Fenster. Seine Wohnung lag im vierten Stock, und als er sich hinauslehnte, konnte er bis zum Zentrum von Haninge und zur Pendelzugstation

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