Menschenhafen
rechte zu seinem Haus, Smäcket . Nachdem er eine Weile überlegt hatte, schlug er den linken ein.
Simon war der einzige Mensch, mit dem er in den letzten Jahren regelmäßig Kontakt gehalten hatte, der Einzige, bei dem er das Gefühl hatte, ihn auch dann anrufen zu können, wenn es im Grunde nichts zu besprechen gab. Anders’ Großmutter rief gelegentlich an, seine Mutter seltener, aber Simon war der Einzige, dessen Nummer er selbst wählte, wenn er das Bedürfnis hatte, die Stimme eines anderen Menschen zu hören.
Simon grub seinen Gemüsegarten um und schien nicht nennenswert gealtert zu sein, seit Anders ihn in jenem Winter gesehen hatte, in dem Maja verschwand. Offenbar hatte er ein Alter erreicht, in dem es keine Rolle mehr spielte, dass man älter wurde. Außerdem war er für Anders schon immer gleich alt gewesen, will sagen sehr alt. Nur wenn er Fotografien aus seiner Kindheit betrachtete, auf denen Simon um die sechzig war, sah er, dass die gut zwanzig Jahre, die seither vergangen waren, einen Unterschied machten.
Simon schloss ihn in seine Arme und strich ihm über den Rücken.
»Willkommen daheim.«
Die weißen, halblangen Haare, die Simons ganzer Stolz waren, kitzelten auf Anders’ Stirn, als er seine Wange an Simons Schulter legte und die Augen schloss. Diese kurzen Momente, in denen man kein erwachsener und verantwortungsbewusster Mensch zu sein brauchte. Man musste sie auskosten.
Sie gingen ins Haus, und Simon setzte Kaffee auf. In seiner Küche hatte sich nicht viel verändert, seit Anders als kleiner Junge im Sommer in ihr gesessen hatte. Ein Boiler über der Spüle war dazugekommen, eine Mikrowelle. Aber das Feuer im gusseisernen Herd knisterte wie eh und je und strahlte seine Wärme auf dieselben Tapeten und Möbel ab. Anders sackte ein wenig in sich zusammen, entspannte sich. Er hatte eine Geschichte und ein Zuhause, das nicht verschwand, weil alles andere zum Teufel gegangen war. Weil er Erinnerungen hatte, war ihm möglicherweise erlaubt zu existieren.
Simon stellte eine Plastikdose mit Mandelplätzchen auf den Tisch und goss Kaffee in ihre Tassen. Anders hob seine an.
»Ich weiß noch, als du … was hast du noch gemacht? Du hattest drei von denen hier, und dann war da ein Papierkügelchen, das hin und her geschoben wurde. Und am Ende … lag unter jeder Tasse ein Sahnebonbon. Die Bonbons hab ich dann bekommen. Wie hast du das nur gemacht?«
Simon schüttelte den Kopf und strich seine Haare zurück. »Üben, üben und nochmal üben.«
Auch in diesem Punkt hatte sich nichts verändert. Simon hatte seine Geheimnisse niemals verraten. Dagegen hatte er Anders ein Buch mit dem Titel Zauberei als Hobby empfohlen. Anders hatte es gelesen, als er zehn war, und im Grunde kein Wort verstanden. Sicher, darin wurde beschrieben, wie man verschiedene Tricks machen konnte, und Anders hatte sogar zwei, drei von ihnen probiert. Aber das hatte doch nichts mit dem zu tun, was Simon machte. Das war doch Zauberei .
Simon seufzte. »Das würde ich heute nicht mehr hinbekommen.« Er zeigte Anders seine Finger, die den Teelöffel hielten, und steif und verkrümmt waren. »Jetzt bleiben mir nur noch die simplen Dinge.«
Simon presste die Hände zusammen, rieb sie aneinander und öffnete sie wieder. Der Teelöffel war verschwunden.
Anders lächelte, und Simon, der auf allen großen Bühnen, der vor Königinnen und Königen aufgetreten war, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und sah unverschämt selbstzufrieden aus. Anders betrachtete Simons Hände, den Tisch, den Fußboden.
»Und wo ist er jetzt?«
Als er wieder aufblickte, saß Simon bereits da und rührte mit dem Löffel in seinem Kaffee. Anders schnaubte. »Misdirection, was?«
»Ja. Misdirection.«
Das war das einzig Wichtige, was er bei der Lektüre des Buchs gelernt hatte. Bei vielen Zaubertricks ging es um misdirection , darum, in die falsche Richtung zu zeigen. Den Zuschauer dorthin schauen zu lassen, wo nichts passierte, ihn wieder hinsehen zu lassen, wenn es längst passiert war. Wie bei dem Teelöffel. Aber sein Wissen war rein theoretisch. Schlauer wurde Anders deshalb nicht. Er trank einen Schluck von seinem Kaffee und lauschte dem Knistern im Ofen. Simons Arme ruhten auf dem Tisch.
»Wie geht es dir?«
»Du meinst, ganz ehrlich?«
»Ja.«
Anders blickte in seinen Kaffee. Das Licht vom Fenster wurde als wackelndes Rechteck reflektiert. Er betrachtete es und wartete darauf, dass es zur Ruhe kommen würde. Als das Rechteck ganz
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