Menschenhafen
sehen. Er blickte hinab. Bis zum Asphalt des Parkplatzes waren es gut zehn Meter, es war kein Mensch in der Nähe.
Er griff erneut nach dem Foto und presste es an sein Herz. Rauchkringel fanden den Weg ins Sonnenlicht, schwebten aufwärts.
»Das geht einfach nicht mehr.«
Er packte den Rand des Topfs und hob den Farn aus dem Fenster. Dann ließ er los. Kurz darauf hörte man ein fernes Krachen, als der Topf auf dem Erdboden zersplitterte. Er wandte sein Gesicht der Sonne zu und schloss die Augen.
»Das muss ein Ende haben.«
Der Anker
Auf dem Friedhof von Nåten liegt in Ufernähe ein Anker. Ein riesiger, gusseiserner Anker mit einem Stock aus geteertem Holz. Er ist größer als jeder Grabstein, größer als alles andere auf dem Friedhof, ausgenommen die Kirche. Fast alle, die den Friedhof besuchen, kommen früher oder später zu diesem Anker, bleiben stehen und betrachten ihn kurz, ehe sie weitergehen.
In Kopfhöhe ist auf dem Ankerstock eine Plakette angebracht, auf der geschrieben steht: »Zur Erinnerung an alle, die auf dem Meer verschwanden.« Der Anker ist also ein Denkmal für all jene, deren Körper man nicht der Erde übergeben, deren Asche man nicht in Hainen verstreuen konnte. Die hinausfuhren und nie mehr wiederkehrten.
Der Anker ist viereinhalb Meter lang, wiegt gut neunhundert Kilo.
Man stelle sich das Schiff vor! Wo mag es jetzt sein?
Vielleicht läuft eine unsichtbare Kette von diesem Anker auf dem Friedhof von Nåten zum Himmel hinauf, in die Erde hinab oder aufs Meer hinaus. Und dort, am anderen Ende der Kette, finden wir das Schiff. Besatzung und Passagiere sind die Verschollenen. Sie wandeln auf Deck und spähen zum leeren Horizont.
Sie warten auf den, der sie finden wird. Das Geräusch eines Dieselmotors oder eine Mastspitze in weiter Ferne. Ein Augenpaar, das kommen und sie sehen wird.
Sie wollen ihre Reise fortsetzen und endlich ankommen, sie wollen ins Grab, sie wollen brennen. Aber sie sind mit einer unsichtbaren Kette an die Erde gebunden und können nur auf ein ödes Meer in ewiger Windstille schauen.
Zurück
Als das Zubringerboot vom Schiffsanleger ablegte, hob Anders die Hand, um Roger am Fahrerplatz zu grüßen. Sie waren im selben Alter, hatten privat aber nie miteinander zu tun gehabt. Dennoch grüßten sie sich, so wie sich alle auf der Insel grüßten, wenn sie sich begegneten. Außer einigen Sommerurlaubern vielleicht.
Er setzte sich auf seinen Koffer und beobachtete das Zubringerboot, als es ablegte, wendete und auf seinem Rückweg nach Nåten Kurs auf die südliche Landzunge nahm. Er knöpfte die Jacke auf. Hier draußen war es ein paar Grad wärmer als in der Stadt, das Meerwasser speicherte noch einiges von der Sonnenwärme des Sommers.
Nach Domarö zu kommen war für ihn immer mit einem bestimmten Geruch verbunden gewesen: einer Mischung aus Salzwasser, Tang, Nadelbäumen und Diesel von der Zisterne am Schiffsanleger. Er atmete tief durch die Nase ein, roch aber so gut wie nichts. Zwei Jahre intensives Rauchen hatten seine Schleimhäute ruiniert. Er fischte eine Schachtel Marlboro aus der Tasche, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete das Zubringerboot, als es, für ein ungeübtes Auge gefährlich nah, Norrudden umfuhr.
Seit Majas Verschwinden war er nicht mehr hier gewesen, und er wusste noch nicht, ob seine Rückkehr ein Fehler war. Bis jetzt empfand er nur die stille, melancholische Freude der Heimkehr. Ein Ort, an dem man jeden Stein kennt.
Das Sanddorngesträuch neben dem Anleger sah aus wie immer, war weder größer noch kleiner. Wie alles andere auf der Insel währte es ewig, hatte es immer schon dort gestanden. Er hatte es als Versteck genutzt, wenn sie Verstecken spielten, später dann als Aufbewahrungsort für die Schnapsflaschen von den Ålandfähren, die er vor den Augen seines Vaters verbergen wollte.
Anders nahm seinen Koffer und schlug den südlichen Dorfweg ein. Die Bebauung rund um den Hafen bestand größtenteils aus alten Lotsenhäusern, die man in den meisten Fällen renoviert oder umgebaut hatte. Die Arbeit als Lotse hatte im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Grundlage für den relativen Wohlstand Domarös gebildet.
Anders wollte niemandem begegnen, weshalb er die Abkürzung an den Felsen entlang zur Jugendherberge nahm, die nach dem Ende der Saison geschlossen war. Der Weg wurde schmaler und gabelte sich. Er stellte den Koffer ab und zögerte. Der linke führte zum Haus seiner Großmutter und zu Simons Haus, der
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