Menschenhafen
Henrik auch schon zugestochen.
Ein Glühfaden brannte auf Anders’ Haut, und ehe er reagieren konnte, wurde das Blut aus seinem Körper gepumpt. In kräftigen Schüben schoss es heraus und spritzte auf Henriks Gesicht und Hände, auf die Treppe und Anders’ Beine. Seine Halsschlagader war durchtrennt worden, und als er instinktiv seine linke Hand auf die Wunde legte, begriff er, dass für ihn jede Rettung zu spät kommen würde.
Der Lebenssaft presste sich im Rhythmus der Herzschläge gegen seine Hand, wurde mit unfassbarer Kraft unter seinen Fingern herausgedrückt. Erst jetzt, als das Herz gegen ihn arbeitete, durfte er seine volle Kraft spüren. Jeden Schlag fühlte er unter seiner Handfläche als einen Stoß frischen Bluts, das einen Weg aus dem Kreislauf suchte. Es lief unter die Jacke und ließ seinen Pullover binnen weniger Sekunden triefend nass werden.
Anders’ Lider flatterten, und er sah undeutlich, dass Henrik aufstand und sich vor die Treppe stellte, als wollte er eine Rede halten. Björn und der sterbende Anders würden seine Zuhörer sein.
»Wird die Welt nachts untergehen?«, fragte Henrik, und Björn antwortete: »Ich weiß es wirklich nicht.«
»Wird die Welt tagsüber untergehen?«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
Anders kippte zur Seite, und seine rechte Hand landete auf der Jackentasche. Er spürte die harte Schachtel durch den Stoff, und als Henrik »Und hat es überhaupt einen Sinn, Kinder zu bekommen?« sagte, schob Anders die Hand in seine Tasche und bekam die Schachtel zu fassen. Seine Finger waren steif und kalt, als wären sie ertrunken, und die Nägel scharrten hilflos über die glatte Fläche. Das Blut aus seinem Hals kam inzwischen in schwächeren Stößen, aber immer noch kräftig genug, um einen kleineren Schwall in seine Augen zu spritzen. Und er sah das Wasser, sah, wie das Wasser im Blutplasma ihn verließ, hatte aber nicht mehr die Kraft, etwas dagegen zu tun.
»Ich weiß es wirklich nicht«, sagte Henrik selbst. Er machte eine Kunstpause und ergänzte: »Ich weiß nur, wir sind Hier und es ist Jetzt.«
Anders spürte eine kitzelnde Bewegung auf seiner Haut, als sich die Schachtel von alleine öffnete und Spiritus in seinen Handteller kroch, während Henrik sagte: »Also leg dich hin und warte. Es gibt nichts mehr zu besprechen.«
Es fließt. Das Wasser fließt.
Er bat es, damit aufzuhören. Die Bitte schoss von seiner Hand hoch und verbreitete sich in dem Baum, der aus seinen Adern bestand. An der Schnittwunde schlug die Bitte ein und zog alles, was in dem Blutstrom Wasser war, an sich, bis es an der Wunde nur noch feste, geronnene Stoffe gab. Um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen, begann Anders’ rechte Pulsader so heftig zu schlagen, dass es sich anfühlte, als hätte er Zuckungen im Hals.
Anders schloss vorsichtig die Hand um Spiritus und sah durch einen roten Schleier, dass Björn inzwischen direkt vor ihm saß und ihm den Rücken zukehrte. Henrik suchte nach einer passenden Schlussbemerkung. Sein Gesicht erhellte sich, als sie ihm einfiel. Er breitete die Arme aus und setzte an zu deklamieren, aber im gleichen Moment fiel Anders auf Björn und umarmte ihn von hinten.
Wasser.
Er sah es. Eine Gurke. So wie eine Gurke erstaunlicherweise fast nur aus Wasser bestehen und dennoch eine feste Form haben konnte, so war es auch bei Björn. Sein Blut, seine Eingeweide, sein Skelett, alles an ihm war nur Wasser in verschiedenen Graden der Trägheit, und dieses Wasser hielt Anders in den Händen.
Björn versuchte aufzustehen, um sich freizumachen, aber Anders bat um Hitze. Er bat um alle Hitze, die sich aufbringen ließ, er bat das Wasser in Björns Armen zu kochen.
Koche, du Schwein!
Björn fiel auf die Treppe zurück, als eine Hitzewelle durch seinen Körper schoss. Zwei Sekunden später hatte er sich in einen Klumpen aus kochendem Wasser verwandelt, und Anders verbrannte sich die Arme und an der Brust. Henrik lief zur Treppe, und als er sie erreichte, öffnete Björn den Mund, um zu schreien.
Aber es kam kein Schrei, aus seinem Mund wurde vielmehr eine Fontäne aus brodelndem, siedendem Wasser geschleudert, die Henriks Gesicht und Brust traf, woraufhin er zurücktaumelte und in einer Wolke aus Dampf hinstürzte. Björn sank auf der Treppe zusammen und spuckte einen letzten Schauer kochend heißes Wasser auf Henrik, ehe er vornüber zu Boden fiel und schnell zusammenschrumpfte. Wenige Sekunden später war er zu einem Haufen aus feuchten, dampfenden Kleidern
Weitere Kostenlose Bücher