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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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reduziert worden.
    Henrik wand sich im Gras, wälzte sich hin und her, als versuchte er so, seinen brennenden Körper zu löschen. Dann ermatteten seine Bewegungen, und er lag still.
    Anders lehnte sich vor und versuchte aufzustehen. Es ging nicht. Als er das Blut verlor, war alle Kraft aus seinen Beinen gewichen. Er war ein ausgewrungener Putzlappen, und wie ein Lappen ließ er sich auf der Treppe willenlos nach vorn fallen und schaffte es gerade so, sich mit den Händen abzustützen. Er kroch vorwärts. Aus Björns Kleidern stieg Dampf auf und löste sich vor dem Nachthimmel auf, und als Anders an den Sachen vorbeirobbte, spürte er die Hitze aus dem Inneren des Kleiderbündels, wie aus einem kleinen, ruhenden Vulkan. Henrik lag ausgestreckt im Gras, sein Blick war in den Himmel gerichtet. Anders kroch, so schnell er konnte, zu ihm und spürte dabei Majas Schneeanzug über seinen Bauch rutschen.
    Stirb nicht. Stirb nicht.
    Henriks Gesicht floss von ihm ab. Sein Brustkorb fiel ein. Die dünne Haut um die Augen hatte sich bereits in Flüssigkeit aufgelöst, und seine Augäpfel sahen aus wie lackierte Porzellankugeln, die in einer Grube aus entzündetem Fleisch lagen. Henriks Finger bewegten sich schwach über das Gras, als streichelte er es.
    Während Anders sich vorwärtszog, kam der Zerfall langsam zum Erliegen, je stärker sich das kochende Wasser abkühlte. Ein paar letzte Dampfschwaden stiegen von den Resten des Gesichts auf, und der Anfall war vorbei.
    Es war kein Mensch, zu dem Anders kroch, neben den er sich legte. Ein Mensch konnte nicht kaputtgehen, wie Henrik es getan hatte. Das Wasser hatte ihn durchschnitten, ohne einen Unterschied zwischen dem zu machen, was beim Menschen harte und weiche Teile waren. Die linke Halsseite und das Kinn waren fort, die Wangen waren von größeren und kleineren Löchern übersät, die sich durch den ganzen Kopf zogen.
    Ein Mensch, der kurz zuvor so verletzt worden war, würde nach Blut oder verbrannter Haut stinken, aber Henrik roch nach nichts. Ein aus Sand geformtes Gesicht, über das ein Eimer Wasser gekippt worden war. Manche Teile waren weggelaufen oder abgefallen, andere waren intakt.
    »Henrik …«
    Anders zog den Ellbogen unter sich, damit er in Henriks Augen sehen konnte, die zwar noch da waren, aber glotzäugig und irre stierten, seit die sie umgebende Haut verschwunden war. Henriks Pupillen bewegten sich in seine Richtung. Falls Henrik lächelte, war es jedenfalls nicht zu sehen, da der größte Teil seiner Lippen fort war.
    »Darf ich mal sehen …«, sagte Henrik. Seine Stimme war undeutlich, gluckernd, als spräche er durch eine Haut aus Flüssigkeit. »Darf ich mal sehen … was du da hast …«
    Anders verstand nicht, was er meinte, aber in diesem Moment schlug Spiritus in seiner Hand, wand sich wie ein Finger, der aus seinem Griff zu kommen versuchte. Er hielt die Hand vor Henriks Augen. Öffnete sie und schloss sie schnell wieder.
    Henriks Kopf bewegte sich fast unmerklich auf und ab. »Dachte ich es mir doch …«, meinte er.
    »Henrik«, sagte Anders. »Du musst mir erzählen …«
    Henrik unterbrach ihn mit seiner unmenschlichen, blubbernden Stimme. »Sei wegen mir nicht traurig. Ich möchte, dass du weißt, tief in meinem Herzen will ich wirklich gehen.«
    »Asleep«, sagte Anders. »Ich weiß. Das haben wir in deiner Hütte gehört. Wir haben auf deinem Bett gesessen. Bitte, bitte, bitte, Henrik. Erzähl’s mir.«
    »Der Schlüssel …«, sagte Henrik.
    »Ja. Was muss ich tun?«
    Henrik stieß Wasserdampf oder Luft aus, die sich in der Kälte in Dampf verwandelte, es ließ sich nicht unterscheiden. Seine Brust fiel noch ein paar Zentimeter ein. Seine Stimme war jetzt nur noch ein leises Zischen, und Anders musste sein Ohr an Henriks Mund legen, um ihn verstehen zu können:
    »Du hältst ihn in der Hand.« Es wurde zwei Sekunden still, dann fügte Henrik hinzu: »Idiot …«
    Anders’ zusätzlicher Finger bohrte und stieß wie als Antwort gegen seine Handfläche, und Anders zog sich voran, sodass sein Mund direkt neben Henriks unverletztem Ohr war, aber ehe er dazu kam, weitere Fragen zu stellen, stieß Henrik einen letzten, wispernden Seufzer aus: »Es gibt eine andere Welt. Es gibt eine bessere Welt. Nun ja, es muss sie geben.«
    Danach sagte er nichts mehr. Anders gab dem Ruhebedürfnis seiner Nackenmuskeln nach und sank neben Henriks Kopf mit der Stirn ins Gras.
    Leb wohl. Idiot.
    Der Blutverlust und die Anstrengung hatten ihn völlig

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