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Menschenhafen

Menschenhafen

Titel: Menschenhafen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Ajvide Lindqvist
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tröstlich. Er hatte sie bei sich, er sprach mit ihr. Sein leichter Dauerschwips hinderte ihn daran, seine Gedanken zu sammeln, und machte ihn empfänglich.
    Es klopfte an der Tür. Drei Sekunden später wurde sie geöffnet, und Anders hörte an den Schritten, dass es Simon war.
    »Jemand zu Hause?«
    »In der Küche. Komm rein.«
    Anders’ Augen huschten durch den Raum, um zu kontrollieren, dass keine Weinflaschen herumstanden. Es gab keine. Nur ein Karton Traubensaftkonzentrat stand unschuldig auf der Arbeitsfläche.
    Simon betrat umstandslos die Küche, setzte sich auf einen Stuhl und fragte:
    »Hast du eine Tasse Kaffee für mich?«
    Anders stand auf, goss ein und stellte die Tasse vor Simon ab, der die Stiftplatte betrachtete.
    »Hast du ein neues Hobby?«
    Anders machte eine abwehrende Geste und stieß dabei seine Tasse so an, dass sie sich einmal um sich selbst drehte, ohne umzukippen. Simon bemerkte es nicht. Sein Blick war nach innen gerichtet, er hatte ganz offensichtlich etwas auf dem Herzen. Er saß eine Weile da, strich mit dem Finger über die Tischplatte, zeichnete unsichtbare Figuren und fragte dann: »Glaubst du, dass man einen anderen Menschen kennen kann? Einen anderen Menschen wirklich kennen kann?«
    Anders verzog den Mund zu einem Lächeln. »In der Frage solltest ja wohl eher du der Experte sein.«
    »Ich glaube allmählich, dass ich es nicht bin.«
    »Wie meinst du das?«
    »Ich meine, dass man nie ein anderer Mensch werden kann. Sosehr man sich das gelegentlich auch einbilden mag. Ist es dir schon einmal passiert, dass man jemandem so nahesteht, dass man manchmal … für einen kurzen Moment … wenn man diesen Menschen ansieht, kann man sich einbilden … für Sekundenbruchteile nur, dass … ich das da bin . Dass eine Verwirrung entsteht, ein Vakuum, wenn man nicht mehr versteht, wer das denkt. Wenn dieser andere jetzt ich ist. Und dann begreift man. Dass man sich geirrt hat. Ich bin doch ich. Ist dir das schon mal passiert?«
    Anders hatte Simon noch nie so reden gehört und war sich nicht sicher, ob ihm das gefiel. Simon sollte stabil sein. An Unsicherheit und Sinnsuche hatte er selbst genug zu bieten. Trotzdem sagte er: »Doch. Ich denke schon. Ich weiß, was du meinst. Aber worum geht’s? Hat es was mit Großmutter zu tun?«
    »Unter anderem. Ist es nicht merkwürdig? Man kann ein ganzes Leben mit einem anderen Menschen zusammenleben. Und trotzdem weiß man nichts. Nicht wirklich. Weil man eben nicht dieser Mensch werden kann. Stimmt’s?«
    Anders begriff nicht, worauf Simon hinauswollte. »Aber das ist doch ganz selbstverständlich. Das wissen wir.«
    Simon klopfte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. Schnell und gereizt. »Das ist genau der Punkt. Ich glaube nicht, dass wir es wissen. Wir gehen von uns selbst aus und bilden uns alles Mögliche ein. Und nur weil wir verstehen, was der andere sagt, glauben wir auch zu wissen, wer er ist. Aber wir haben keine Ahnung. Keine Ahnung. Weil wir nicht der andere sind .«
    Als Simon gegangen war, lag Anders lange in Majas Bett und schaute an die Decke, wo die Spinnwebfäden wie Schmutzränder verwischten. Er hatte eine neue Flasche präpariert und nahm ab und an einen Schluck aus der Saugöffnung. Er dachte darüber nach, was Simon gesagt hatte.
    Man kann kein anderer werden. Aber wir glauben, dass wir es können.
    Hatte ihn das dazu getrieben, Cecilia anzurufen? Er war davon ausgegangen, dass sie ihn verstehen und sehen würde, was er sah, weil sie so viele Jahre ineinander aufgegangen, fast dieselbe Person geworden waren.
    Aber es gab keine mystische Korrespondenz. Sie trennten sich und hatten nichts mehr miteinander zu tun. Wenn ihre Zusammengehörigkeit real gewesen wäre, hätte sie nicht so einfach gebrochen werden können. Dann hätten sie ausgeharrt, einander vollkommen verstanden und gemeinsam diese Hölle durchschritten.
    Anders hob die Flasche, machte eine kreiselnde Handbewegung, die das Zimmer und das Haus einschloss, und sagte laut: »Aber dich verstehe ich doch.«
    Oder?
    Er dachte an die Zeit zurück, in der er Maja früher betrachtet hatte, als sie noch ein Säugling war und in ihrem Gitterbettchen schlief. Wie sehr er über die schnellen Bewegungen der Augen unter den Lidern gestaunt hatte, wenn sie träumte. Wie sehr er sich gewünscht hatte, dort eindringen zu können, um zu sehen, was sie sah, um zu verstehen, was immer ihr kleiner, junger Kopf verarbeiten mochte. Wie die Welt wirklich für sie aussah.
    Nein. Wir

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